Schwestern der Nacht
niedergeschrieben hatte:
18. August
Brütende Hitze. 38 Grad Celsius um drei Uhr nachmittags. Habe meine italienischen Schuhe auf dem Weg zwischen Arbeit und Hotel auf dem schmelzenden Asphalt schmutzig gemacht.
Wurde zum Schwimmen eingeladen, hatte aber keine Lust aufs Meer und lehnte ab. Die Hitze erinnerte mich an einen Nachmittag in einem Chicagoer Café vor ein paar Jahren, als ich einfach nur dagesessen und dem schwerfälligen Deckenventilator zugeschaut habe.
War hin- und hergerissen zwischen Trägheit und Anfällen von Wollust. Wurde während der Arbeit zweimal von sexuellen Gelüsten gepackt — einmal morgens, einmal nachmittags.
Aß im Hotel zu Abend. Die Hitze, die selbst nach Sonnenuntergang nicht nachließ, hatte meinen Jagdtrieb abgekühlt. Ging in ein vollklimatisiertes Kino, schlief aber nach zehn Minuten ein. Flüchtete nach Shinjuku; trank in mehreren Bars Scotch mit Wasser —im Roi, im Schwarzen Schwan, im Bon Bon. Spürte im vierten Laden ein Opfer auf: im Boi.
Brachte es zur Strecke.
Tätigkeitsbericht
Musiker kamen rein. Wünschte mir Zigeunerleben, ein Lieblingslied aus meiner Schulzeit. Große Überraschung, als eine samtige weibliche Altstimme von oben einstimmte. Äußerst dramatisch. Sangen das Stück mehrmals. Daß ich mein unsichtbares Opfer nur spüren konnte, stimulierte mich wie seit langem nicht mehr.
Entpuppte sich als dürres Mädchen. Unnötig, sie zu jagen; flog mir geradezu in die Arme. Verließ das Boi und führte sie in ein paar andere Bars. Taxifahrer brachte uns zu einem klimatisierten Gasthaus, in dem ich schon mal übernachtet hatte. Kostete mich diesmal das Doppelte — lächerlich. Muß daran denken, nicht wieder dort hinzugehen.
Ob Beute wohl viel verträgt? Wie auch immer, kein Widerstand, keine hysterischen Ausbrüche, keine Überreaktionen. Lieferte sich mir einfach aus. Kam mir vor wie ein Gott, der ein Menschenopfer entgegennimmt.
Tat ihr Bestes, meine Bedürfnisse zu befriedigen, war aber zu nervös und hörte nicht auf zu zittern. Brauchte zwei Stunden, um sie zu erlegen. War noch Jungfrau; Blut floß.
Sie schlief drei Stunden und sah dabei eigenartig erleichtert aus. Keine Ahnung, warum.
Überprüfte ihre Handtasche. War offensichtlich nicht gut bestückt, steckte ihr also ein paar tausend Yen zu.
Verließ das Gasthaus gegen fünf und brachte Opfer mit dem Taxi nach Omori. Mußte das Zimmermädchen aufwecken — sie war schlecht gelaunt und nahm mein Trinkgeld mürrisch entgegen. Opfer nickte und sagte: »Na ja, sie hat's sicher auch nicht leicht.«
Alle ihre Familienangehörigen sind beim Atombombenangriff ums Leben gekommen; lebt bei neunundzwanzigjähriger Schwester in Omori.
Keiko Obana
Alter: 19
Schreibkraft
Fujii-Apartmenthaus, XX Omori Kaigan, Shinagawa-ku
Arbeitgeber: K-Lebensversicherungsgesellschaft
Alle Angaben stammen aus dem Personalausweis in ihrer Handtasche.
Postskriptum 15. Januar
Dieses Opfer machte ihrem Leben fünf Monate nach der Affäre mit mir ein Ende. Laut Zeitungen wegen einer Berufskrankheit. Schade, arme Keiko.
Nachdem er sich noch einmal unter Aufbietung aller Kräfte an Keikos Gesicht erinnert hatte, blätterte er eine Seite weiter und las den nächsten Eintrag. Es kam ihm nicht einen Moment der Gedanke, daß irgendein Zusammenhang zwischen ihm und dem Selbstmord des Mädchens bestehen könnte.
Er hatte ihr nachgesehen, als sie in der schmalen Gasse in Omori Kaigan verschwunden war, wo die Luft immer nach Meer riecht. Selbst ihm taten die Abschiede jedesmal weh; sie waren für ihn der Preis, den er für seine Liebesabenteuer bezahlen mußte. Er schüttelte wehmütig den Kopf. Doch jetzt war nicht die rechte Zeit für solch trübe Gedanken. Er war bereit zur Jagd und verbannte das Mädchen aus seinem Geist.
Er ging zum Schrank und begann sich mit peinlicher Sorgfalt anzukleiden. Voll Vergnügen suchte er ein dunkelblaues Jackett mit Fischgrätmuster und eine knallrote Fliege dazu aus. Zum Schluß folgte ein echt britischer Mantel aus dickem, aber locker gewebtem Tweed. Er stand vor dem Garderobenspiegel und kämmte vorsichtig sein pechschwarzes, leicht welliges Haar. Nach kurzem Zögern entschied er sich für eine dunkelbraune Schirmmütze, löste, einer Eingebung folgend, den Knoten seiner Fliege und band sie wieder zusammen, diesmal jedoch ein wenig schief.
Er musterte sein Gesicht und bewunderte wieder einmal seine schwarzen Augen mit ihrer unergründlichen Tiefe und den ausgeprägten Lidfalten. Das war
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