Schwestern der Nacht
die Stufen hoch. Er ließ ihr diesen kleinen Vorsprung, damit er sie im Treppenhaus abfangen konnte. Wenn nichts dazwischenkam, hatte er bestimmt leichtes Spiel.
Er zwang sich, ruhig zu atmen, und nahm dann, immer zwei Stufen auf einmal, das steile enge Treppenhaus zum fünften Stock in Angriff.
3
Fusako Aikawa, Fremdsprachensekretärin für Englisch bei der Statio-Handelsgesellschaft, hatte nicht die leiseste Ahnung, daß Ichiro Honda ihr durchs Treppenhaus des Meigaza folgte. Ihre Gedanken weilten bei ihrer Collegezeit, als sie regelmäßiger Gast dieses Kinos gewesen war. Damals hatte ihr der fünf Stockwerke hohe Aufstieg nicht das geringste ausgemacht, im Gegenteil, sie war die Treppen gerne hinaufgestiegen, weil sie der Überzeugung war, oben warte eine Zauberwelt voller Geheimnisse auf sie. Wie hatte sie sich in jenen unschuldigen Tagen nach dem echten Leben gesehnt! Und als sie es dann bekam, als was entpuppte es sich? Was hatten ihr die letzten zehn Jahre gebracht, außer daß sie zur Arbeit ging und hinterher wieder nach Hause, um sich schlafen zu legen?
Sicher, sie hatte ein oder zwei Männerbekanntschaften gehabt, aber was hatten die schon bedeutet? Nicht mehr als langweilige Liebesgeschichten — sie hatten nichts mit dem wahren Leben zu tun, nach dem sie sich sehnte, dem Leben, das von der Leinwand herunterflimmerte. Sie hatte die Männer vergrault und sich statt dessen zu einer hochgeschätzten Langzeit-Angestellten entwickelt, die jeden Monat die Hälfte ihres Gehaltes sparte — und zu einer alten Jungfer, die über jedes Vergnügen die Nase rümpft. Nicht einmal sie selbst wußte genau, an welchem Punkt sie eigentlich so geworden war.
Was hatte eine alte Jungfer aus ihr gemacht? Das Schrillen des Weckers jeden Morgen; der überfüllte Zug auf dem Weg zur Arbeit; die eintönige Wiederholung der Menüs auf der Speisekarte in der Cafeteria?
Außerdem ärgerte sie sich darüber, daß sie unter einem fadenscheinigen Vorwand vor den anderen Mädchen aus dem Musikgeschäft geflohen, daß sie von dem qualvollen Thema »Hochzeit« davongelaufen war. Weshalb hatte sie eine andere Verabredung vorgeschützt? Wozu eine so offensichtliche Lüge? Warum hatte sie ihnen nicht einfach gesagt, daß ihr dieses sentimentale Geschwätz auf die Nerven ging?
Sie blieb auf halbem Weg stehen, um Atem zu schöpfen. Das Klingeln hörte auf; jetzt würden im Kino die Lichter ausgehen. Sie fühlte sich wie in einem Vakuum gefangen. Und dann registrierte sie plötzlich Schritte auf der Treppe. Sie trat zur Seite, um den Fremden vorbeizulassen.
Was selbstverständlich gar nicht in Hondas Sinne war. Er lief geradewegs in sie hinein, um sie ansprechen zu können. Sie rutschte aus und wäre gefallen, wenn sie sich nicht an der Wand abgefangen hätte. Mit funkelnden Augen fuhr sie herum, doch das holprige Japanisch seiner Entschuldigung nahm ihr allen Wind aus den Segeln. »Tut mich seeeeehr leid.« Sie mußte unweigerlich lächeln. Er streckte ihr eine helfende Hand entgegen.
»Vielen Dank, es geht schon wieder. Wirklich.« Sie verstand wirklich wenig von der Jagd. Ganz im Gegenteil, der junge Mann mit der sportlichen Mütze und der schief auf eine Seite gekippten Fliege machte auf Anhieb guten Eindruck — genau wie geplant.
»Ist Kino noch weit?« fragte die tiefe, angenehme Stimme.
»Ja, noch ein Stück.« Aus einem unerfindlichen Grund, vielleicht weil sie mit einem Ausländer redete, sprach Fusako ebenfalls mit Akzent, was sie jedoch merkwürdigerweise entspannte und ihre übliche Wachsamkeit Männern gegenüber dämpfte. Dieser Zusammenstoß auf halber Höhe des Treppenhauses mit einem gebrochen Japanisch sprechenden Fremden kam ihr ganz natürlich vor. »Ziemlich unbequem, daß es hier keinen Lift gibt, nicht wahr?« fügte sie hinzu und setzte den Aufstieg an seiner Seite fort. Sie hegte nicht eine Sekunde den Verdacht, daß er kein Ausländer sein könnte. Obwohl seine Gesichtszüge recht japanisch aussahen, benahm er sich doch ganz anders als ihre männlichen Arbeitskollegen. Die Art, wie er sich hielt und sich bewegte, diese entzückende Offenheit machten ihn eindeutig zu einem Ausländer. Sie war bereits in die Falle gegangen.
»Dieser Film aus meine Land.«
Er sprach jedes Wort langsam und sorgfältig aus, damit sie ihn auch bestimmt verstand. Als ob er ihre unausgesprochene Frage beantworten wollte, setzte er hinzu: »Deshalb ich will sehen.«
»Sind Sie Franzose?«
»Nein, Algerier. Mein Name Sobra. Ich
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