Schwestern der Nacht
komme in Japan zu studieren.«
Die Vorstellung, es mit einem Studenten aus einem Entwicklungsland zu tun zu haben, weckte Fusakos Beschützerinstinkt.
»Ach, jetzt verstehe ich. Dann spielt der Film wohl in Algerien. Gibt es da immer noch die Fremdenlegion?« Für den Rest der Strecke bestritt sie die Unterhaltung, und ihr Herz begann eigenartig zu hüpfen.
Als sie oben ankamen, war der Kartenschalter bereits geschlossen. Ichiro zuckte die Achseln, und beim Anblick dieser so fremdländischen Geste schmolz ihr Herz vollends. Ein Mädchen rief sie zu der gegenüberliegenden Seite des Raumes, wo jetzt die Eintrittskarten verkauft wurden, und das Ganze endete damit, daß Fusako für beide bezahlte. Er erhob Einspruch, doch als drinnen die Wochenschau begann, liefen sie schnell in den Saal.
Während des ganzen zweistündigen Films saß er kerzengerade da, ohne den Blick auch nur ein einziges Mal von der Leinwand abzuwenden. Er unternahm keine zweideutigen oder bedrohlichen Versuche, wie etwa ihre Hand zu berühren. Sie fühlte sich immer wohler in Gegenwart dieses stillen ausländischen Studenten, war mehr und mehr von ihm angetan.
Als der Film aus war, verließen sie das Kino über die rückwärtige Feuertreppe. Im allgemeinen Gedränge der Besucherschar landeten sie schließlich in einer engen Nebengasse, in der ein Durcheinander von kleinen Bars und Mülltonnen herrschte. Genau wie die Kasbah, fand sie, in Gedanken immer noch bei dem Film. War der Mann an ihrer Seite an so einem Ort aufgewachsen? Dieser Gedanke reizte ihre romantische Ader. Spontan sagte sie: »Gehen wir noch was trinken?«
Er war einverstanden, und sie gingen in eine Bar. Statt eines süßen Cocktails bestellte sie harte Drinks. Sie hielt sich heute abend für außerordentlich trinkfest, außerdem war sie entschlossen, dieses Abenteuer bis zum Ende durchzustehen.
Als sie gingen, zahlte er.
»Jetzt bin ich an der Reihe«, verkündete sie und führte ihn ins nächste Lokal. Sie war stolz darauf, einen Ausländer im Schlepptau zu haben, ganz abgesehen davon, daß solchen Reisenden schließlich ein gewisses Maß an Gastfreundlichkeit zustand. Außerdem hatte sie Hunger.
Nach und nach wurde sie beschwipst und immer redseliger. Sie erzählte ihm alles über sich — über ihre Arbeit, die Kollegen, ihr Elternhaus und ihre Kindheit, die Wohnung in Koenji, in der sie alleine lebte. Lang Angestautes polterte aus ihr heraus; wenn er nicht alles verstand, um so besser. Er saß einfach nur da und hörte zu, sah sie mit einem Lächeln an, das nie nachließ. Er war der ideale Zuhörer, und so redete sie hemmungslos weiter.
Sie hatte nicht gewußt, daß die Bar die ganze Nacht hindurch geöffnet blieb, und war deshalb fast schockiert, als sie feststellte, daß es bereits zwei Uhr früh war. Sie mußte nach Hause! Sie hievte sich unsicher aus ihrem Stuhl und wäre um ein Haar gestürzt. Während sie sich erholte, bezahlte er die Rechnung. Betrunken, wie sie mittlerweile war, wollte sie sich auf keinen Fall von dem Fremden trennen. Sie klammerte sich an seinen Arm; ihr war, als ob sie schwebte. So hatte sie sich noch nie gefühlt; mit ein wenig schlechtem Gewissen begann sie mit ihm zu flirten.
»Sie wissen sicher nicht, wo Sie heute nacht bleiben sollen, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf. Diese kindliche Reaktion erinnerte sie an einen streunenden Hund. Sie winkte ein Taxi herbei.
»Rein mit Ihnen. Wir fahren zu mir. Ich hab' noch nie jemand in meine Wohnung mitgenommen, aber bei Ihnen will ich mal eine Ausnahme machen.« Sie gab sich alle Mühe zu flüstern, doch die Worte brachen laut und trunken aus ihr heraus.
Als das Taxi vor ihrem Apartmenthaus anhielt, führten die vertrauten Straßenlaternen an der Kreuzung und sogar die eingetopfte Palme neben dem Eingang einen geisterhaften Tanz auf. Einen Moment lang fand sie sich nicht zurecht und glaubte schon, am verkehrten Haus zu sein.
Endlich, wenn auch mit zehn Jahren Verspätung, begegnete ihr das wahre Leben, von dem sie als Zwanzigjährige immer geträumt hatte. Sie stapfte schwankend die unebenen Stufen hinauf; die Farbe über dem Verputz blätterte ab. Der Mann stützte sie mit einem Arm; sie lehnte sich gegen ihn und spürte durch den dicken Stoff ihres Mantels hindurch seine Hand auf ihrer Brust.
Dann schloß sie die Tür auf und stolperte hinein. Er hielt sie immer noch fest. Das Feuer im Ofen war aus, das Apartment eiskalt. Sie schaltete einen kleinen Heizlüfter ein und stellte ihn vor
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