Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwestern der Nacht

Schwestern der Nacht

Titel: Schwestern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masako Togawa
Vom Netzwerk:
Er konnte es nicht erklären — es war einfach da, eine Mischung aus geistiger Erregung und dem Rhythmus seines Körpers. Diese Vorahnungen überkamen ihn meistens während reiner Routinehandgriffe, zum Beispiel, wenn er seine Krawatte band; sie ließen ihn den ganzen Tag nicht mehr los, so daß es ihm vorkam, als hätte seine Seele den Körper verlassen.
    Am 15. Oktober — einem Tag, der sich durch die folgenden Verhöre durch Polizei, den Staatsanwalt, seinen Rechtsanwalt und den Richter tief in sein Gedächtnis einbrennen sollte — überfiel ihn eine solche Vorahnung, während er mit dem Binden seiner Krawatte beschäftigt war. Er wiederholte den Vorgang sorgfältig; als er kurz darauf nach seinem Zimmerschlüssel griff, brach er in fröhliches Pfeifen aus und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter; der Fahrstuhl war ihm an diesem Tag einfach zu langweilig. Im Foyer trank er eine Tasse Tee, las gleichzeitig die Zeitungen, ging dann in den Speisesaal und bestellte Toast mit Schinken und Rührei. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Lokalnachrichten: Verkehrsunfälle, Doppelselbstmorde, Morde — was hatte das alles mit ihm zu tun? Diese menschlichen Tragödien waren für ihn nichts weiter als eine Ansammlung gedruckter Buchstaben auf einem Stück Papier; die Gefühle, die er ein paar Wochen später beim Zeitung-lesen haben würde, konnte er nicht vorausahnen. Sonst wäre ihm klar gewesen, daß er nichts als ein Insekt war, auf das sich langsam ein Netz herabsenkte. Im Moment jedoch nahm die Welt scheinbar keinerlei Notiz von ihm und seinen Taten.
    Auf dem Weg zur U-Bahn platzte er fast vor freudiger Erwartung. Er kam sich wie ein Jäger vor, und die ganze Welt schien in gleißendes Sonnenlicht getaucht.

2
    Am Abend des 5. November nahm Ichiro Honda den Bus von Yotsuya Sanchome nach Shinjuku Oiwake. Er trug einen weichen, braunen Tweedmantel und eine ebenfalls braune Schirmmütze, wie sie für französische Filmschauspieler in den dreißiger Jahren typisch war. Er hatte sich in seinem Apartment umgezogen, das er (vor zwei Jahren) unter dem Pseudonym Shoji Ueda gemietet hatte. Er war direkt nach der Arbeit in das Apartmenthaus, das den Namen Meikei-So trug, gefahren. Der Hauswirt hielt ihn für einen Schriftsteller, der das Apartment brauchte, um in Ruhe an seinen Manuskripten arbeiten zu können.
    Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, wovon eins drei mal vier Meter groß, das andere etwas kleiner war; beide wären im japanischen Stil mit Tatami-Matten ausgelegt. Die Wohnung kam Ichiros Zwecken sehr entgegen. Zum einen ging es hier anonymer zu als in den meisten Etablissements — weder der Hausmeister noch die Bewohner der angrenzenden Wohnungen waren neugierig. Honda nahm selbstverständlich niemanden dorthin mit. Der Garderobenschrank hing voller Mäntel und Anzüge; außerdem gab es ein Bett und einen Schreibtisch. Hier konnte er in jedes Kostüm schlüpfen, nach dem ihm gerade der Sinn stand. Die Entscheidung war nicht immer leicht: die Schirmmütze, ein Filzhut oder eine Baskenmütze? Der rotgefütterte Sweater oder der schäbige Regenmantel? Manchmal wechselte er die Kleidung mehrmals, bevor er endlich zufrieden war. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und brachte sein Tagebuch auf den neuesten Stand.
    In seinem >Jäger-Logbuch<, wie er es nannte, hielt er all seine amourösen Abenteuer fest; er führte es jetzt schon viele Jahre, und das dicke Notizbuch war fast voll. An jedem Tag mit einer morgendlichen Vorahnung folgte er demselben Ritual: zur Wohnung fahren, umziehen, das Tagebuch vervollständigen oder darin lesen.
    Beim Lesen erinnerte er sich an seine Erfolge, er konnte den Geschmack jeder Frau noch einmal auf der Zunge spüren. Er konnte das Gefühl von Brüsten unter seinen Händen, das Rascheln eines hinabgleitenden Höschens heraufbeschwören. Diese vergangenen Erlebnisse bereiteten ihn ausgezeichnet auf die kommenden Freuden vor.
    An diesem Abend fiel das Buch an einer Stelle auf, die er vor ungefähr einem Jahr geschrieben hatte. Später hielt er das nicht mehr für puren Zufall, sondern für höhere Gewalt, doch zu diesem Zeitpunkt dachte er sich nichts dabei. Während er den Textabschnitt durchlas, erinnerte er sich genau an die Frau. Er sah ihr Gesicht vor sich, nachdem sie wieder aufgewacht war. Sie hatte einen schmutzigen Teint mit zahlreichen Aknekratern gehabt. Seine Augen glitten über die Worte, die er in seiner klaren, energischen Handschrift

Weitere Kostenlose Bücher