Schwestern der Nacht
nicht nur sein Gesicht; es war zugleich eine Maske, in der jedermann das entdeckte, was ihm gefiel. Nichtsdestotrotz war es ein charmantes Gesicht, und er blinzelte ihm zu. Das Gesicht im Spiegel blinzelte zurück.
Draußen fuhr ihm der eiskalte Wind an die Kehle, doch seine Füße tanzten fröhlich über den Bürgersteig. In den Straßen schoben sich die Autos Stoßstange an Stoßstange voran, und es dauerte eine Weile, bis er eine freie Lücke fand, um über die Straße zu schießen und den überfüllten Bus zu erwischen, der genau im gleichen Moment anhielt.
In Shinjuku Oiwake stieg er wieder aus und wurde sofort von einem strahlend hell erleuchteten Schaufenster mit Musikinstrumenten in den Bann gezogen. Es gehörte zu Kontani, einem bekannten Musikgeschäft. Er stieß die Tür auf und trat ein. Innen herrschten Licht und Heiterkeit; Studenten, Liebespaare und ganz normale Arbeiter belagerten die Verkaufstheken, versorgten sich mit Phonogeräten, Schallplatten oder Musikinstrumenten. Schnell hatte sein geübtes Auge eine Gruppe Büromädchen erfaßt, die um einen Plattenständer herumstanden. Die meisten von ihnen waren knapp über zwanzig, nur eine fiel durch ihr Alter etwas heraus. Obwohl sie eindeutig dazu gehörte, schien sie sich ein wenig abseits von den anderen zu halten. Offensichtlich arbeiteten alle bei derselben Firma, und er entnahm ihrer Unterhaltung, daß sie Fremdsprachensekretärinnen für Englisch waren. Anscheinend wollte eine der Kolleginnen demnächst heiraten, und sie suchten ein Geschenk für sie aus.
Er sah ihnen eine Zeitlang zu, dann stand sein Entschluß fest. Das ältere Mädchen sollte heute nacht seine Beute werden. Er spürte ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit, und als sie es ablehnte, mit den Jüngeren noch in ein Café zu gehen, war die Sache perfekt. Er zog sich ein wenig zurück und machte sich so unsichtbar wie möglich, ließ die Gruppe jedoch keine Sekunde aus den Augen.
Kurz darauf verabschiedete sich die Frau von ihren Kolleginnen und steuerte auf die Tür zu. Sie verließ den Laden allein, und Ichiro hängte sich an ihre Fersen.
Sein Opfer trug einen flotten, gut geschnittenen Mohairmantel mit dezentem Muster. Sie sah älter aus als dreißig, und ihr vorgerecktes Kinn verriet Ichiro den Stolz einer alleinlebenden Frau, enthüllte gleichzeitig aber auch ihren verstohlenen Kummer. Sie war reif, ihm heute nacht zum Opfer zu fallen.
Aus der vorangegangenen Unterhaltung wußte er, daß sie zum Bahnhof von Shinjuku unterwegs war. Dort würde sich ihm bestimmt eine Gelegenheit bieten, sie abzufangen und in ein Gespräch zu verwickeln. Seine Vorahnungen hatten ihn bisher noch nie getäuscht; es klappte immer alles wie am Schnürchen — so würde es auch in dieser Nacht sein.
An der Fußgängerampel vor dem Kaufhaus Isetan hatte er sie schließlich eingeholt. Sie wartete darauf, daß die Ampel umsprang, ohne zu merken, daß er hinter ihr stand und auf ihren Nacken starrte. Daß diese Frau ihm in wenigen Stunden gehören würde und jetzt direkt vor ihm stand, erfüllte ihn mit Freude und heimlicher Wollust. Er kam sich wie ein Märchenheld vor, der seine Tarnkappe aufgesetzt hatte. Der Nordwind, Vorbote des Winters, blies ihm ins Gesicht, alte Zeitungsfetzen und welke Blätter wirbelten durch die Luft. Um ihn herum gingen die Leute eilig ihren Geschäften nach, die Mantelkrägen hochgeschlagen.
Zuerst sah es so aus, als ob die Frau tatsächlich zum Bahnhof ginge, wie sie gesagt hatte, doch dann blieb sie plötzlich vor dem Meigaza Kino stehen und betrachtete das Poster eines alten französischen Spielfilms, der gerade lief. Er stand vor dem Schaufenster der Buchhandlung nebenan und beobachtete sie. Die Klingel, die den Beginn der letzten Vorstellung ankündigte, schrillte auf, und als ob ihr das die Entscheidung abgenommen hätte, betrat die Frau das Foyer — just in dem Augenblick, als Ichiros sechster Sinn ihm sagte, daß sie genau das tun würde. Obwohl sie ihren Kolleginnen etwas von einer anderen Verabredung erzählt hatte, war sie also doch nur ein Opfer, das nach Liebe hungerte. Nur eine kleine Falle, und sie würde ihm gehören.
Die bevorstehende Hochzeit der Kollegin hatte sie nämlich deshalb so aufgeregt, weil sie sie an ihre eigenen verpaßten Gelegenheiten erinnerte. Er mußte jetzt nur noch nett mit ihr sprechen und ihr bereitwillig zuhören. Das war alles.
Nachdem sie durch die Eingangstür verschwunden war, zählte er langsam bis fünf und folgte ihr dann
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