Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
einen verschlagenen Blick zu – doch dann wurde der Ausdruck ihrer Augen weich. »Mädchen, halb menschlich oder nicht, du besitzt das zweite Gesicht und nicht wenig Macht. Denke darüber nach. Du wurdest in dein Leben zwischen den Welten hineingeboren, du hast gelernt, mit dem Verstreichen der Jahre und der wachsenden Last vieler Gedanken umzugehen. Tam Lin wurde als Sterblicher geboren. Er konnte sich den vielen Jahrhunderten nicht anpassen.«
Ich nickte verständnisvoll. Der Nektar des Lebens verlängerte die Lebensspanne eines jeden, der davon trank, weit über die gewöhnlichen Jahre eines Sterblichen hinaus. Mein Vater hatte Mutter die Entscheidung überlassen, ob sie davon trinken wollte oder nicht, doch sie war klug genug gewesen, die Fallstricke zu erkennen. Sie hatte abgelehnt, und als sie vom Pferd gestürzt war, hatte der Tod sie sich geholt.
»Was ist mit ihm geschehen?« Morios Stimme war sanft. Auch er begriff die Tragweite dessen, was Titania getan hatte.
Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange und schimmerte wie ein Diamant mit hundert makellosen Facetten. »Er hat den Verstand verloren. Manchmal ist er monatelang mit den Tieren im Wald herumgerannt. Eines Tages hat der Eichenprinz ihn gefunden und ihn zu meinem Hügel zurückgebracht. Er hat mich getadelt – mich! Titania, die Königin des Feenlandes. Er hat mit mir geschimpft wie mit einem ungehorsamen Kind.« Ihre Stimme wurde lauter, und ihre Wangen röteten sich. Sie hielt einen Moment lang inne und fuhr dann fort:
»Ich musste ihm versprechen, dass ich Tam dabei helfen würde, sich einzugewöhnen, und er schenkte ihm ein Amulett, das ihn schützen sollte. So wurde Tam Lin zu Tom Lane, und jedes Jahrhundert verbringt er eine Weile draußen in der Welt. Ich benutze meine Kontakte, um ihm all die Requisiten zu besorgen, die er in der menschlichen Gesellschaft braucht. Das ist recht schwierig geworden, weil die Menschen heutzutage so komplizierte Ausweise brauchen. Dann suchen wir ihm eine einfache Arbeit, mit der er gut beschäftigt ist. Gegen Ende eines jeden Zyklus, wenn er müde wird oder jemand Verdacht schöpft, kommt mein Liebling wieder heim zu mir, und ich lösche dieses Leben aus seiner Erinnerung. Nachdem er eine Weile in meinen Gemächern geschlafen hat, erwacht er zu einem weiteren, neuen Leben.«
Sprachlos starrte ich sie an. Wie egoistisch konnte man eigentlich sein? Erst hatte sie Tom an sich gefesselt, als sie ihn aus seiner Welt entführt und gefangengehalten hatte. Dann, nachdem er ihr entkommen und nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie ihn ermuntert, zu ihr zurückzukehren. Statt seine Erinnerung auszulöschen und ihn zu seiner Familie zurückzuschicken, zwang sie ihm eine Lebensspanne auf, mit der sein Geist nicht zurechtkommen konnte.
»Bei allen Göttern, warum lasst Ihr ihn nicht einfach schlafen? Oder schickt ihn für alle Zeit in Stasis? So wäre er vermutlich glücklicher.« Sollte sie mich doch in Stücke sprengen, wenn sie wollte, aber was sie getan hatte, verstieß gegen alle Moralvorstellungen, mit denen ich groß geworden war. Bedauerlicherweise hätten viele meiner reinblütigen Sidhe-Verwandten über die ganze Situation nur herzlich gelacht.
Titania schoss von der Bank hoch. Ein sichtbarer Nimbus des Zorns flammte um sie auf, und ich errichtete automatisch einen Schutzschild.
»Aber du bist ja so rechtschaffen und tugendhaft, nicht wahr? Ich kann den Svartaner an dir riechen. Spiel mir nicht das schüchterne Mädchen vor. Du bist die Geliebte des Teufels – was gibt dir das Recht, mich zu verurteilen, du Halbblut ? Ich bin Titania, Königin des Feenlandes. Erzittere vor mir!« In ihren Augen funkelte Magie auf, doch hinter diesem Feuerwerk steckte kein Wumm!, und ich erkannte, dass Titania nichts geblieben war außer Illusionen und Erinnerungen. Eine verblasste Schönheitskönigin, die sich an alte Fotos klammerte.
»Ich schade durch meine Handlungsweise keinem anderen«, erwiderte ich und trat vor. »Ich habe niemanden getäuscht.« Ich stieß sie rücklings auf die Bank und beugte mich über sie. »Hört mir zu, und hört gut zu. Ihr habt Euch dafür entschieden, Eure Krone aufzugeben und an die Erde gebunden zu bleiben. Tja, ich habe Neuigkeiten für Euch. Die Elfenkönigin hat sich umgestellt. Und es gibt längst eine neue Königin der Sidhe, und die würde Euch im Ganzen runterschlucken!«
Titanias Glamour geriet ins Wanken. O ja, meine Wutanfälle konnten beeindruckend sein. »Ihr steht
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