Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
bleistiftdünnen Oberlippenbart, und obwohl er zierlich gebaut war, schien er unter dem grünen Strickpulli mit Zopfmuster recht drahtig zu sein. Was er wohl unter dem Pulli trug? Ich konnte ihn leider kaum bitten, aufzustehen, damit ich mir seine Hose ansehen konnte.
Ich rief mich zur Ordnung und fragte: »Und, wer bist du?«
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem gerissenen Lächeln. Mein Puls beschleunigte sich, und ich rutschte auf der Bank herum und fragte mich, ob er meine Gedanken lesen konnte.
Er lachte leise. »Morio. Ich bin gerade erst in Seattle angekommen.«
Morio? Das war ein japanischer Name. »Aber nicht aus der Anderwelt«, sagte ich gedankenlos. »Äh, du bist kein Sidhe. Was bist du?« Oh-oh. Sehr unhöflich. In der Anderweit galt es als Gipfel schlechter Manieren, sich bei der ersten Begegnung danach zu erkundigen, »was« jemand war. Ich ruderte zurück. »Entschuldigung... wie unhöflich von mir. Mein Name ist Camille. Großmutter Kojote hat dich gebeten, mich aufzusuchen? Woher wusstest du, dass ich heute Abend hier sein würde?«
»Ich bin dir von zu Hause aus gefolgt.« Er strich sich eine lange Haarsträhne zurück, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte.
Scheiße, er wusste also, dass Menolly und ich zusammengehörten. Ich konnte nur beten, dass er tatsächlich auf unserer Seite stand. »Du hast mich beobachtet? Das mag ich nicht besonders.«
Morio zuckte mit den Schultern. »Du hättest mich gar nicht bemerkt, wenn ich es dir nicht gesagt hätte, also denk nicht weiter darüber nach. Ich bin gestern aus Japan gekommen.« Er blickte sich in der Taverne um. »Ich war schon länger nicht mehr hier. Der Riese ist weg.« Mit einer knappen Geste in Menollys Richtung beugte er sich vor. »Ich werde dein Geheimnis nicht verraten. Und ihres auch nicht.«
Ich sog scharf die Luft ein. Direktheit würde mich bei ihm wohl nicht weiterbringen, trotzdem... »Was willst du von mir?«
Er zeichnete mit dem Finger ein kompliziertes Muster auf den Tisch. Mein Körper spannte sich an – das sah aus, als webe er einen Zauber, aber ich fühlte keine Magie von ihm ausgehen, also versuchte ich, mich zu entspannen. »Es geht nicht darum, was ich von dir will«, erwiderte er. »Sondern darum, was ich für dich tun kann.«
»Und was kannst du für mich tun?« Ich beugte mich vor und merkte, dass die Frage recht zweideutig geklungen hatte.
»Ich kann dir helfen, das zu finden, was du suchst«, sagte er. »Ich kenne den Wald. Ich kann Spuren lesen, Wege ausschnüffeln und Dinge aufspüren.«
Er hob den Kopf, und sein Blick bannte mich. Sein Lächeln rann wie guter Wein durch meine Adern und verwirrte mich, während die Energie alter Wälder uns umschloss. Dunkel und tief, alt und wild wob sie sich wie ein Umhang um seine Schultern. »Falls du darüber hinaus etwas willst, bin ich sicher, dass ich auch damit dienen kann.«
Ich schnappte nach Luft und erkannte, dass er ein erdgebundener Geist war und zu dieser Welt gehörte. »Hat Großmutter Kojote dich geholt, damit du uns hilfst?«
Ein weiteres Lächeln, und wieder wurde ich in ein schwindelerregendes Kaleidoskop aus Blättern, Zweigen und Wurzeln hineingezogen, die sich tief in die Erde bohrten. »Nicht direkt, aber sie hat mir jene gezeigt, die diese Welt bedrohen. Meine Welt . Ich stehe dir zur Verfügung. Gib mir etwas zu tun.«
Er hob das Glas, und ich erwiderte den Gruß und fragte mich, was ich nun tun sollte. In diesem Moment machte Menolly mich auf sich aufmerksam. Sie hatte dazu keinen Finger gerührt, doch wir waren Schwestern, also spürte ich es, wenn sie nach mir rief. Ich blickte zur Bar hinüber, wo sie stand und auf ein Büchlein in ihrer Hand hinabschaute. Ein Notizbuch, wie Reisende es benutzten, von einem Gummiband umschlossen. Jockos Tagebuch.
»Geh und sprich mit ihr. Ich warte hier auf dich«, sagte Morio.
Als ich langsam aufstand, ohne meinen neuen Gefährten aus den Augen zu lassen, fiel mir auf, dass Morio mich auf eine Art bewegte, wie es kein Mann mehr vermocht hatte, seit Trillian mir begegnet war. Ob das etwas Gutes oder Schlechtes verhieß, würde ich abwarten müssen.
Menolly warf mir einen fragenden Blick zu, als ich an die Bar trat. Ich bestellte noch einen Weißwein und lehnte mich dann über die Theke. »Wir müssen reden.«
»Ich kann jetzt nicht weg, aber nach der Arbeit will ich mich umsehen, ob ich nicht einen Hinweis darauf finde, wer Bad Ass Luke von hier aus geholfen hat. Nimm das Tagebuch an dich.
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