Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
Triebe, die Ranken irgendeiner Pflanze, ragten an mehreren Stellen aus ihrem Körper und lugten unter einem so hauchdünnen Kleid hervor, dass sie nackter wirkte, als wenn sie gar nichts getragen hätte.
Anziehend und wunderschön, warf sie uns einen langen Blick zu und winkte dann Morio, der einen Schritt auf sie zutrat. Ich packte ihn am Arm.
»Nicht! Ich rieche Dämonen«, sagte ich. Und dann wusste ich, wem wir gegenüberstanden. Das war diese Wisteria aus Jockos Tagebuch. Und für mich bedeutete das, dass Bad Ass Luke nicht weit sein konnte.
Wisteria richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Morio. Sie streckte den Zeigefinger und krümmte ihn wieder. Ich sah seinen glasigen Blick und zwickte ihn kräftig in den Arm.
»Wach auf! Sie belegt dich mit einem Glamour-Zauber!«
Morio schüttelte den Kopf und blinzelte. Wisteria warf mir einen hässlichen Blick zu und bleckte die Zähne – spitze kleine Zähne. O nein, die stand nicht auf unserer Seite, so viel war sicher.
In diesem Augenblick drängten sich Delilah und Chase hinter uns durch die Tür. Als Wisteria sich mit gleich vieren von uns konfrontiert sah, beschloss sie offenbar, es lieber nicht auf einen Kampf anzulegen, denn sie wirbelte herum und floh.
Ich brach über sie herein wie ein Schneesturm über einen Berg und sandte ihr einen Energiestoß nach. Ich traf sie genau in den Rücken, sie flog gut fünf Schritte vorwärts, doch dann, o Graus, begann der Blitz von den Wänden zurückzuprallen. Ehe ich ihn aufhalten konnte, traf er Chase und riss ihn von den Füßen.
»Mist! Chase, alles in Ordnung?« Während ich mich neben ihn kniete, griffen Morio und Delilah Wisteria an. Ich hörte einen Tumult und blickte zu ihnen auf. Es war ihnen gelungen, sie zu packen. Morio hielt sie fest, während Delilah versuchte, sie mit einem Ärmel ihrer Jacke zu knebeln.
Chase blinzelte ein paarmal und setzte sich dann langsam auf. Den Göttern sei Dank, er hatte nicht die volle Wucht des Energiestrahls abbekommen – das hätte tödlich sein können. Er blickte auf sein versengtes Hemd hinab und verzog das Gesicht.
»Hast du dir etwas gebrochen? Brauchst du einen Arzt?« Ich half ihm auf die Beine.
Er klopfte sich den Staub von den Jeans und betastete dann vorsichtig seinen Bauch, wo der Stoff sich tiefbraun verfärbt hatte. »Na, herzlichen Dank. Das war eines meiner Lieblingshemden. Verflucht, tut das weh. Du haust vielleicht zu, Mädel!«
»Du hast nicht die volle Ladung abgekriegt. Glück im Unglück«, erwiderte ich grimmig. In der besten aller Welten hätte der Blitz nicht zum Querschläger werden dürfen, doch da meine Magie oft verrückt spielte, konnte eben immer etwas schiefgehen. Ach ja – in der besten aller Welten wäre Menolly noch am Leben, meine Magie würde perfekt funktionieren, meine Schwestern und ich wären ganz hohe Tiere beim AND und hätten es nicht nötig, einem Degath-Kommando aus Dämonen hinterherzulaufen, die fanden, es sei an der Zeit, die Erde zu erobern.
Ich vergewisserte mich, dass Chase es überleben würde, und wandte mich dann Wisteria zu. Delilah und Morio hatten es geschafft, sie zu fesseln; hinter ihr stand ein großer Eichentisch, der mit einem fadenscheinigen Leinentischtuch bedeckt war. Vor einem der Stühle lag ein Set mit einer Serviette darauf. Ich schüttelte die Serviette aus und ging auf unsere Gefangene zu.
Delilah zog ihre Hand weg, als ich die Serviette über Wisterias Mund legte. »Sie ist stark«, sagte Delilah warnend, und im selben Moment wand sich die Fee heftig, um sich zu befreien. Meine Schwester drückte Wisteria zu Boden, und Morio packte sie noch fester.
Ich kniete mich hin und versuchte festzustellen, zu welcher Rasse Wisteria gehörte. Sie stand offensichtlich in Verbindung mit den Wäldern. Die Ranken und Blätter waren keine Stickerei auf ihrem Kleid; sie waren ein Teil ihres Körpers, ihres Wesens. Ich berührte ihr Haar und strich ihr die langen, weizenblonden Strähnen aus den Augen. Der schwache Umriss eines Mals kam mitten auf ihrer Stirn zum Vorschein – drei Blätter.
»Eine Art Baumnymphe, denke ich.« Ich kramte in altem Schulwissen herum. »Eine Dryade.«
»Eine Mänade?«, schlug Morio vor. »Rasend genug ist sie jedenfalls.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich rieche kein Fleisch, und Mänaden essen Fleisch. Die hier hat in ihrem Leben noch keinen Hamburger angerührt, darauf verwette ich meinen guten Ruf. Nein, ich glaube, unsere Wisteria hier ist eine Dryade, die sich über
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