Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
die Beine.
Der kleine Ort in der Nähe des Alder Lake hielt sich dank der vielen Touristen über Wasser, die auf dem Weg zum Mount Rainier hier durchreisten. Der Ashland Market, der Laden des Rastplatzes, bot einen Ausblick auf den See, und ich schlenderte zum Ufer und starrte auf das weite Wasser hinaus. Die dicken Wolken drohten damit, jeden Augenblick eine Sintflut auf uns loszulassen, und der Wind peitschte auf dem See kleine Wellen mit Schaumkronen auf.
Delilah gesellte sich zu mir, hielt aber ein paar Schritte Abstand vom Ufer. Wie die meisten Katzen hatte sie eine natürliche Abneigung gegen Wasser, und obwohl sie keine Probleme mit dem Baden und Duschen hatte – den Göttern sei Dank – hatte sie nur Schwimmen gelernt, weil der AND darauf bestanden hatte. Seit man ihr das Schwimmerabzeichen überreicht hatte, hatte sie nie wieder einen Fuß in ein Gewässer gesetzt, das größer war als ein Whirlpool.
Sie zog ihre Jacke fester um sich und schob sich die Hände unter die Achseln. »Verdammt, ist das kalt. Mir gefällt es hier nicht. Es ist zu wild und zu alt.«
Ich starrte sie an. »Zu alt? Wir kommen aus der Anderwelt – und du findest diesen Ort hier zu alt?«
Schulterzuckend sagte sie: »Vielleicht ist es das nicht... ich weiß nicht... Diese Gegend fühlt sich nur wild an, auf eine Art, die ich von der Anderwelt nicht kenne. Die Magie in den Wäldern der Anderwelt lässt die Bäume schimmern und erweckt sie zum Leben. Hier reden die Bäume mit niemandem. Sie wachsen in ihren eigenen dunklen Reichen, und ich kann nicht hören, was sie denken.«
Da hatte sie recht. In der Anderwelt war das Land so eng mit seinen Bewohnern verbunden, dass es sich wie ein Teil der Gemeinschaft anfühlte. Selbst in den dunklen Wäldern herrschte immer ein Gefühl von Verständnis und Miteinander. Auf der Erde war der Wald wie durch einen gewaltigen Abgrund von den Menschen getrennt; das unterstrich noch das Gefühl grundlegenden Misstrauens, das ich bei den meisten Menschen spürte, die mir begegneten. Sie vertrauten der Wildnis nicht, sie fürchteten alles Ursprüngliche und nahmen unglaubliche Mühen auf sich, um alles in ihrer Reichweite zu zähmen. Es war, als befänden sich die wilden Orte im Krieg mit der Menschheit. Wenn sie doch nur einen Kompromiss finden könnten.
Wir beobachteten einen Falken auf der Jagd, der tief über dem See dahinflog. »Manchmal«, sagte ich, »frage ich mich, wie es wäre, wenn Anderwelt und Erdwelt wieder frei miteinander verbunden wären, so wie ganz früher, ohne Regeln und Vorschriften, wer wo kommen und gehen darf. Wie würden sich die Dinge dann verändern?«
»Das würde für beide Welten den Tod bedeuten.« Morio hatte sich von hinten an uns herangeschlichen, so leise, dass keine von uns beiden ihn gehört hatte. Erschrocken fuhr ich zusammen, doch er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Entschuldigung, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.« Er warf Delilah einen Blick zu und sah dann wieder mich an. »Bei dem Fortschritt, den die Erde gemacht hat, wäre es ein gewaltiger Fehler, jetzt die Grenzen zwischen den Welten ganz zu öffnen. Vielleicht irgendwann in der Zukunft, wenn beide Seiten gut auf den Kulturschock vorbereitet sind.«
»Seid ihr so weit?« Chase rief vom Jeep aus nach uns; seine Miene wirkte vage beunruhigt. Wir eilten zurück zum Wagen. Er hielt eine Tüte voll Knabbereien in der Hand, doch sein verstörter Blick sagte mir, dass ihm mehr durch den Kopf ging als Kartoffelchips.
»Was ist los?« Ich sah mich um und fragte mich, was in den vergangenen fünfzehn Minuten passiert sein könnte.
»Ich habe mich mit dem Kassierer unterhalten. In letzter Zeit hat es hier ein paar ziemlich merkwürdige Vorkommnisse gegeben. Verlassene Gebäude sind niedergebrannt, ein paar Kühe und Schafe fehlen, Blutflecken wurden gefunden. Es sind sogar ein paar seltsame UFO-Sichtungen gemeldet worden. Wonach klingt das für euch?«
»Nach einem herumstreunenden Drachen.« Ich warf Morio und Delilah einen Blick zu. »Ich habe das scheußliche Gefühl, dass wir ihn noch persönlich kennenlernen werden.«
Bei der Aussicht, mit einem Drachen kämpfen zu müssen, wurde mir schlecht. Was hatte der überhaupt hier zu suchen? Und welche Beziehung bestand da zu Tom Lane? Das Foto in Georgio Profetas Notizbuch wies darauf hin, dass es eine Verbindung gab. Und was war so Besonderes an Tom Lane, dass er eines der Geistsiegel besaß?
Als wir wieder ins Auto stiegen, verdunkelte
Weitere Kostenlose Bücher