Schwestern des Mondes 09 - Vampirblut-09.06.13
zog ihn ihr über den Kopf und setzte sofort mit der Lampe vom nächsten Beistelltischchen nach.
Sie schüttelte die Glassplitter ab, riss den Garderobenständer neben der Tür von seinem Sockel und zielte damit auf mich wie mit einem Speer. Scheiße, das konnte der längste Pfahl der Welt werden! Ich sprang beiseite, als sie ihn nach mir schleuderte. Er krachte gegen die Wand und hinterließ ein Loch, von dem aus ein Riss langsam die Wand hinabkroch.
»Jetzt hab ich es aber satt, verdammt noch mal«, flüsterte ich und zog den Pflock aus meinem Stiefel. Ich rannte auf sie zu und erkannte, dass ich dank meines Feenerbes schneller laufen konnte als sie. Ich setzte über die Möbel hinweg, sprang leicht von einer Sessellehne auf eine Tischplatte und sprintete dann auf dem Boden weiter, während sie aus dem Zimmer rannte. Jetzt stand ihr die Angst ins Gesicht geschrieben.
Sie lief zur Haustür, und ich folgte ihr. Sobald wir draußen waren, wandte sie sich nach rechts und floh in Richtung der Bäume, und ich gab Gas. Die grausame Nacht war lebendig, obwohl der Schnee lautlos zu Boden sank und alles unter einem weißen Leichentuch begrub.
Ich war schneller als sie, und ehe ich michs versah, hatte ich sie eingeholt. Ich packte sie am Arm und wirbelte sie zu mir herum. Sie fauchte. Meine Feindin. Meine Freundin. Ein Spiegel dessen, was aus mir werden könnte.
»Ach, Sassy, es tut mir so leid. Aber ich habe es dir versprochen. Du würdest dich selbst verabscheuen, wenn dein wahres Ich noch da wäre.« Als sie mir mit den Klauen ins Gesicht fuhr und einen langen, tiefen Kratzer hinterließ, stieß ich mit dem Pflock zu, durch das Chanel-Jäckchen, durch die Haut, in ihr Herz. Was als kleiner Blutfleck begann, breitete sich binnen Sekunden als Staub und Asche aus. Sie stieß ein langgezogenes Kreischen aus und löste sich vor meinen Augen auf. Es blieb nur ein kleiner brauner Fleck auf dem Schnee. Ich blieb auf den Knien daneben sitzen.
»Was Leben war, ist verdorrt. Was Gestalt war, verfällt. Sterbliche Ketten lösen sich, und die Seele fliegt frei. Mögest du den Weg zu deinen Ahnen finden. Mögest du den Weg zu den Göttern finden. Mögen Lieder und Legenden deines Mutes und deiner Tapferkeit gedenken. Mögen deine Eltern stolz auf dich sein und deine Kinder dein Geburtsrecht weitertragen. Schlaf und wandle nicht länger.«
Unsere Litanei für die Toten. Wir hatten das Gebet im vergangenen Jahr sehr viel öfter gesprochen, als uns lieb war. Doch Sassy war jetzt bei ihren Ahnen, und hoffentlich bei der Tochter, um die sie all die Jahre getrauert hatte. Tränen rannen mir über die Wangen, und ich wischte sie hastig weg. Die Sassy, die ich kannte, hätte mir eines ihrer scharlachroten Stofftaschentücher gereicht, damit ich sie abtupfen konnte, ehe meine Kleidung Flecken abbekam. Die Sassy, die ich kannte, hätte …
»Ich danke dir, Menolly …« Die Stimme trieb mit dem Wind an mir vorbei. Ich fuhr herum und stand vor einer Gestalt, die sich schwach und durchscheinend vor dem Schnee abzeichnete.
»Was … Sassy?« Sie stand in Lebensgröße vor mir, aber bleich und nebelhaft. Mir fiel auf, dass ihr Haar leuchtend blond war, und sie sah jünger aus. Neben ihr stand ein kleines Mädchen, das ihre Hand hielt, und auf der anderen Seite des Kindes war Janet – als junge Frau, lebhaft, lächelnd. Das Kind hatte Sassys Nase und ihre Augen.
»Oh, Sassy … du hast sie beide gefunden.«
Sassy neigte den Kopf zur Seite. »Danke dir«, sagte sie noch einmal mit einer Stimme wie ein Flüstern im Wind. »Jetzt kann ich gehen. Ich bin frei. Und sieh mal …« Sie öffnete den Mund und lächelte. Keine Fangzähne. Der Vampir in ihr war verschwunden, durch den Tod zerstört.
Ich lächelte unter Tränen, stand auf, legte die Finger an die Lippen und blies ihr eine Kusshand zu. Sie fing den Kuss auf, wandte sich dann langsam ab und ging Hand in Hand mit Janet und ihrem kleinen Mädchen davon, um gleich darauf im Nichts zu verschwinden. Wo sie gestanden hatte, lag ein säuberlich gefaltetes Stofftaschentuch, scharlachrot, und darauf eine frische rote Rose.
Ich nahm beides an mich und küsste das Taschentuch. »Es tut mir leid«, flüsterte ich, ehe ich es einsteckte.
Ich kehrte ins Haus zurück, räumte auf und warf die zerbrochenen Möbel raus. Dann blätterte ich das Adressbuch auf ihrem Schreibtisch durch und suchte nach ihrem Anwalt. Er wusste, dass sie ein Vampir war, und wie die meisten von uns, die irgendwelche
Weitere Kostenlose Bücher