Schwesternkuss - Roman
handschriftliche Widmung von Freunden oder Freundinnen. Dann sah sie sich in der Wohnung um. Nirgends gab es Fotos, weder auf einem Tisch noch auf einem Regal noch auf dem Boden verstreut; weder im Wohn- noch im Schlafzimmer. Alice hatte wohl keine Freunde.
In Bennies Haus gab es auch keine Fotos – nur ein paar von Bär. Deshalb hatte Alice auch so problemlos in ihr Leben schlüpfen können. Denn niemand kannte sie wirklich. Sie betrachtete das getrocknete Blut an ihrer Hand. Was gäbe sie dafür, in diesen Lebenssaft eintauchen zu können. Durch den Körper ihrer Schwester floss das gleiche Blut. Es war gut, und es war böse. Doch welcher Anteil überwog?
Sie schob den Gedanken beiseite und widmete sich einem dünnen Packen Briefe, der auf dem Tisch lag und von einem dicken Gummiband zusammengehalten wurde. Der oberste Brief war an diese Anschrift adressiert. Auf dem Umschlag klebte eine ausländische Briefmarke mit arabischen Schriftzeichen. Der Brief war auf einem herausgerissenen Blatt eines Notizblocks geschrieben.
Liebe Alice,
toll, wieder von dir zu hören, auch wenn ich hier stationiert bin und festsitze. Es ist mein dritter Ausflug an die Front. Unsere Vorgesetzten haben nichts gegen eine Facebook-Seite, aber sie muss jugendfrei sein. Wenn du wüsstest, wie oft ich in den letzten Jahren an dich gedacht habe! Ich bin so froh, dass du einen neuen Job gefunden hast und dass alles gut ausgegangen ist …
Der Brief war mit Dave unterschrieben. Alice hatte also mit Dave Gamil vom College wieder Kontakt aufgenommen. Der Brief war zwei Jahre alt. Damals hatte Alice bei der Rechtshilfe angefangen. Sie blätterte die Umschläge durch, sie waren in chronologischer Reihenfolge sortiert. Der zweite Brief war zwei Monate später geschrieben worden.
Liebe Alice,
wie ich mich über deine Briefe und Päckchen freue! Sie erinnern mich an mein Zuhause, an die College-Zeit und wie glücklich wir damals waren. Meine Kameraden sind alle neidisch auf deine guten Plätzchen. Den Playboy brauchst du mir nicht mehr zu schicken. Ich habe ihn weggegeben, denn ich denke nur noch an dich …
Alice hatte also auch eine gute Seite. Es war nicht falsch gewesen, dass Bennie ihr einmal vertraut hatte. Die Gefangenschaft in der Kiste hatte die Erinnerung daran allerdings restlos ausradiert.
Liebe Alice,
ich liebe dich. Nur dank dir halte ich es in diesem Dreckloch aus. Ich bin so froh, dass unsere alte Liebe wiederauferstanden ist. Nach dem Tod meiner Eltern war es mir gleich, wie lange ich hier bleiben muss. Aber jetzt! Am liebsten würde ich morgen in den Flieger steigen, um dich endlich wiederzusehen …
Liebe Alice,
ich denke immer an dich, Tag und Nacht. Die meiste Zeit sitzen wir hier herum und warten. Und dann bricht die Hölle los. Mein Kumpel Mojo sagt, es ist wie Baseballspielen, erst rennen und dann warten. Wir haben bald einen Einsatz, aber mach dir keine Sorgen …
Liebe Alice,
wie ich das Militär satt habe! Ich bin total durchgeschwitzt und stinke am ganzen Körper. Ich will hier weg, nach Hause zu dir und mit dir schlafen. Wie oft ich dein Foto betrachte! Mojo behauptet, seine Frau sei schöner. Aber der findet ja auch Geschützfeuer schön …
Babe,
ich weiß, dass ein Brief nicht der rechte Ort dafür ist. Aber ich liebe dich, und ich kann nicht warten, bis ich wieder zu Hause bin. Hier also die Frage aller Fragen: WILLST DU MICH HEIRATEN? SAG BITTE JA! Wir werden bestimmt sehr glücklich werden und könnten unser eigenes Basketball-Team aufbauen …
Alice verlobt? Bennie konnte es nicht glauben. Sie legte den Brief zurück. Da war noch ein Umschlag, aber der enthielt keinen Brief, sondern nur einen Zeitungsausschnitt mit einem Foto von David Gamil in Uniform. Er hatte immer noch dieselben strahlenden Augen. Es war seine Todesanzeige.
David N. Gamil, Erster Leutnant der US-Luftwaffe beim sechsten Sicherheitsgeschwader, starb am 19. März im Dienst bei einem feindlichen Bombenangriff südlich von Bagdad …
Bennie dachte an den Schmerz, den Alice diese Nachricht zugefügt haben musste. Die Zeitung stammte vom 21. März dieses Jahres. Den Brief mit dem Heiratsantrag hatte David am 20. März geschrieben.
Daves Tod vor ungefähr einem halben Jahr musste Alice aus der Bahn geworfen haben. Zu der Zeit verlor sie das Interesse an ihrem Job bei der Rechtshilfe, sie begann zu dealen und mit Q ins Bett zu gehen.
Was Alice getan hatte, konnte so zwar erklärt, aber keineswegs gerechtfertigt oder gar entschuldigt
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