Schwesternkuss - Roman
»Nimm du den Schirm. Ich muss mich hinsetzen.«
»Ich habe ihn.« Judy hielt ihn über Alice. Eine steife Brise wehte vom Fluss herüber, die den beiden den Regen ins Gesicht klatschte. »Gehen wir zurück ins Restaurant. Hier kann uns niemand helfen.«
»So weit kann ich nicht gehen.« Alice schlang einen Arm um Judys Schulter und wies in Richtung Ladedock. »Dorthin, bitte. Weiter kann ich nicht. Es tut so weh. Hilf mir dahin, bitte. Da kann ich mich hinsetzen.«
»Wohin?«
»Zu dem Vorsprung am Ladedock. Du gehst dann zurück ins Restaurant und holst Hilfe. Judy, mach schnell. Es tut entsetzlich weh.«
»Aber da ist es so dunkel.«
»Na und? Ich habe Schmerzen.« Alice ließ eine Hand vorsichtig in die Jackentasche, in der sich ihre Waffe befand, gleiten. »Judy, mach schon. Ich kann nicht mehr!«
»Okay, halte dich an mir fest.« Die beiden taumelten über den glitschigen Parkplatz zum Dock, ein in alle Richtungen wogender Regenschirm über ihnen. Plötzlich standen sie in hellem Scheinwerferlicht. Der Bewegungsmelder des Docks hatte es wahrscheinlich eingeschaltet.
»Au! Au!« Alice verging fast in ihrem gespielten Schmerz. Dass sie den Mord nun in gleißendem Licht begehen musste, damit hatte sie nicht gerechnet. Zum Glück verhinderten die geparkten Lkws einen Einblick von der Straße. Sie ließ sich auf den Vorsprung sinken, mit einer Hand hielt sie sich an Judy fest, mit der anderen zog sie die Pistole aus der Tasche. »Hier ist es gut, Carrier. Hier ist es gut.«
Judy zögerte. »Wieso nennst du mich plötzlich mit meinem Nachnamen? Das machst du nie.«
»Na und? Hilf mir lieber.«
»Du bist nicht Bennie!« Judys Augen weiteten sich. » Ich habe es gewusst!«
Da ein Schrei. Die beiden drehten sich um. Ein Schatten bewegte sich auf sie zu.
Es war Bennie.
Alice stand blitzschnell auf, packte Judy und drückte ihr die Mündung der Pistole auf die Stirn. »Mund halten! Kein Wort!«
»Hilfe!«, schrie Judy. Alice hatte den Finger am Abzug.
»Halt den Mund, habe ich gesagt.«
»Bitte, nicht!«
Vor ihnen stand Bennie im Scheinwerferlicht. Auch sie hatte den Finger am Abzug.
»Lass sie los«, schrie Bennie. Alice lachte.
»Frau Anwalt hat eine Waffe? Frau Anwalt will mich erschießen?«
Judys entsetzter Blick wanderte von einem Zwilling zum anderen.
»Lass sie los!«, schrie Bennie. Alice lachte wieder.
»Lass die Kanone fallen, oder ich erschieße sie!«
Bennie blickte den Lauf ihrer Pistole entlang zu ihrem Spiegelbild.
»Lass du die Kanone fallen, oder ich erschieße dich !«
88
»Schneller!« Das Taxi raste den Columbus Boulevard hinunter. Mary saß ganz am Rand des Beifahrersitzes, ihre Eltern und Grady teilten sich die Rückbank. Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe. Dennoch entdeckte sie die rote Markise des Roux . »Da ist es! Schnell!«
»Okay.« Der Fahrer stoppte hinter einem anderen Taxi, dessen Beifahrertür sich gerade öffnete. Aus dem stieg Fiorella, die sofort losrannte. Allerdings nicht in Richtung Restaurant.
»Das ist Fiorella!«, rief Mary. »Aber wo will die denn hin?«
»Ja, das ist sie!«, rief ihr Vater. Mary sprang aus dem Taxi, Fiorella hinterher. Der kalte Regen schlug ihr ins Gesicht, sie konnte kaum etwas klar erkennen. Weiter unten auf der rechten Seite brannten Lichter. Das war Fiorellas Ziel. Sie lief wie eine junge Gazelle, ihre Stöckelschuhe klackten auf dem glänzenden Asphalt.
»Fiorella!«, rief Mary in den Regensturm hinaus. Ihr Gesicht und ihre Kleider trieften bereits vor Nässe. Auch Ma, Pa und Grady riefen den Namen der Hellseherin in die Nacht.
Mary bahnte sich einen Weg zwischen zwei Sattelschleppern. Vom Ladedock waren Stimmen zu hören. Fiorella und drei andere Personen standen da im Scheinwerferlicht.
Mary erschrak, als sie die anderen erkannte. Bennie und Alice, beide mit einer Pistole in der Hand, und Judy, die von einer der beiden bedroht wurde. Mary konnte das Pochen ihres Herzens bis in die Ohren hören. Grady, Ma und Pa, die inzwischen angekommen waren, blieben vor Schreck stehen und starrten auf den Show-down vor ihnen.
Auch Mary blickte wie gelähmt hin und wurde plötzlich unsicher. Wer von den beiden Frauen war Bennie? Sie zermarterte sich das Gehirn. Beide sahen wie Bennie aus, aber eigentlich konnte keine von beiden Bennie sein. Denn Bennie würde niemals eine Waffe auf jemanden richten.
Aber natürlich – eine musste Bennie, eine musste Alice sein. Und da wurde Mary mit einem Schlag klar, wer wer war.
Bennie
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