Schwesternmord
eigentlich mal die Mühe gemacht, zu überprüfen, wo ich war, als das passierte? Ich weiß, dass ich damals nicht in der Stadt war. Meine Sekretärin kann Ihnen das bestätigen.«
»Trotzdem müssen Sie verstehen, dass Ihre Unschuld damit noch längst nicht bewiesen ist. Sie könnten jemanden dazu angestiftet haben, einem Vogel den Hals umzudrehen und ihn in Annas Briefkasten zu werfen.«
»Ich gebe ja offen zu, was ich tatsächlich getan habe. Ja, ich bin ihr gefolgt. Ich bin vielleicht ein halbes Dutzend Mal an ihrem Haus vorbeigefahren. Und, ja, ich habe sie an diesem einen Abend geschlagen – und ich bin nicht stolz darauf. Aber ich habe nie irgendwelche Todesdrohungen verschickt. Und ich habe auch keinen Vogel getötet.«
»Sind Sie nur gekommen, um mir das zu sagen? Denn wenn das alles ist …« Sie machte Anstalten aufzustehen – und war geschockt, als er urplötzlich die Hand ausstreckte und sie am Arm packte. So fest war sein Griff, dass sie sich instinktiv gegen den Angriff wehrte und sein Handgelenk verdrehte, um sich zu befreien.
Er stöhnte vor Schmerz auf und sank benommen auf seinen Stuhl zurück.
»Wollen Sie, dass ich Ihnen den Arm breche?«, sagte sie. »Nur zu, versuchen Sie’s einfach noch mal mit diesem kleinen Trick.«
»Es tut mir Leid«, murmelte er und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Aller Groll, der sich während ihres Wortwechsels in ihm aufgestaut hatte, schien mit einem Mal verflogen. »Mein Gott, es tut mir Leid …«
Sie betrachtete ihn, wie er da zusammengesunken auf seinem Stuhl saß, ein Häufchen Elend, und sie dachte: Dieser Kummer ist echt.
»Ich muss einfach wissen, was hier passiert«, sagte er. »Ich muss wissen, dass Sie irgendetwas tun .«
»Ich tue meine Arbeit, Dr. Cassell.«
»Alles, was Sie tun, ist, gegen mich zu ermitteln.«
»Das ist nicht wahr. Unsere Ermittlungen gehen in alle Richtungen.«
»Ballard hat gesagt …«
»Detective Ballard ist nicht für diesen Fall zuständig. Ich leite die Ermittlungen. Und Sie können mir glauben, dass ich jeder einzelnen Spur nachgehe.«
Er nickte, holte tief Luft und straffte die Schultern. »Das war es, was ich hören wollte – dass alles getan wird, was getan werden kann. Dass Sie nichts übersehen haben. Ganz gleich, was Sie von mir halten, die reine Wahrheit ist: Ich habe sie geliebt.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Es ist furchtbar, von einem geliebten Menschen verlassen zu werden.«
»Ja, das stimmt.«
»Wenn Sie einen Menschen lieben, ist es doch nur natürlich, dass Sie ihn festhalten wollen. Dann tun Sie auch schon mal etwas Verrücktes, aus reiner Verzweiflung …«
»Bis hin zum Mord?«
»Ich habe sie nicht ermordet.« Er sah Rizzoli in die Augen. »Aber Sie haben Recht – für sie hätte ich auch gemordet.«
Ihr Handy läutete. Sie stand auf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und ging hinaus. Es war Frost. »Das Überwachungsteam hat gerade einen weißen Lieferwagen vor Van Gates’ Haus entdeckt«, sagte er. »Er ist vor einer Viertelstunde langsam am Haus vorbeigefahren, hat aber nicht angehalten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Fahrer unsere Jungs gesehen hat, deshalb sind sie ein paar Häuser weiter gefahren.«
»Wieso glaubt ihr, dass es der richtige Lieferwagen ist?«
»Die Kennzeichen sind gestohlen.«
»Was?«
»Die Jungs haben die Nummer aufgeschrieben. Die Schilder wurden vor drei Wochen von einem Dodge Caravan in Pittsfield abmontiert.«
Pittsfield, dachte sie. Nicht weit von Albany, gleich auf der anderen Seite der Staatsgrenze.
Albany, wo erst letzten Monat eine Frau verschwunden ist .
Sie stand da, das Telefon ans Ohr gepresst, und ihr Puls begann zu rasen. »Wo ist der Lieferwagen jetzt?«
»Unser Team hat die Stellung gehalten und ist ihm nicht gefolgt. Bis sie die Information über die Nummernschilder eingeholt hatten, war er schon weg. Er ist bis jetzt nicht wiedergekommen.«
»Wechseln wir den Wagen aus und verlegen das Team in eine Parallelstraße; dann schicken wir ein zweites los, um das Haus zu überwachen. Wenn der Lieferwagen dann noch mal vorbeikommt, können wir ihn mit zwei Wagen im Wechsel verfolgen.«
»Okay, ich fahre sofort hin.«
Sie legte auf und wandte sich zur offenen Tür des Besprechungsraums
um. Charles Cassell saß noch immer am Tisch, das Kinn auf die Brust gesenkt. Ist es Liebe oder Besessenheit, was ich da sehe?, fragte sie sich.
Manchmal war da einfach kein Unterschied zu erkennen.
28
Es dämmerte
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