Schwesternmord
Erste aufgewacht, und sie betrachtete ihre Nachbarschaft plötzlich mit neuen Augen. Sie sah, wie sich gegenüber die automatischen Rasensprenger einschalteten und zischelnd zu kreisen begannen. Sie sah den Zeitungsjungen vorbeiradeln, den Schirm der Baseballkappe in den Nacken gedreht, und hörte das dumpfe Geräusch, mit dem der Boston Globe auf ihrer Veranda landete. Alles scheint so zu sein wie immer, dachte sie, aber der Schein trügt. Der Tod hat in meiner Straße zugeschlagen, und niemand, der hier wohnt, wird es
je vergessen können. Sie werden aus ihren Wohnzimmerfenstern auf die Straße blicken und die Stelle sehen, wo der Taurus gestanden hat, und mit Schaudern werden sie daran denken, wie leicht es jeden von uns hätte treffen können.
Die Lichtkegel von Scheinwerfern bogen um die Ecke, ein Wagen näherte sich. Der Fahrer drosselte das Tempo, als er an ihrem Haus vorbeikam. Ein Streifenwagen des Reviers Brookline.
Nein, nichts ist mehr, wie es war, dachte sie, als sie dem Polizeifahrzeug nachsah.
Nichts wird je wieder so sein, wie es war.
Sie traf noch vor ihrer Sekretärin im Büro ein. Schon um sechs saß Maura an ihrem Schreibtisch und machte sich daran, den hohen Stapel von Diktaten und Laborberichten in ihrem Eingangskorb abzuarbeiten. Es hatte sich einiges angesammelt in der Woche, während sie in Paris an der Konferenz teilgenommen hatte. Sie hatte schon ein Drittel erledigt, als sie auf dem Flur Schritte hörte. Als sie aufblickte, sah sie Louise in der Tür stehen.
»Sie sind ja hier«, murmelte Louise.
Maura begrüßte sie mit einem Lächeln. » Bonjour! Ich dachte, ich fange lieber mal zeitig an mit dem ganzen Papierkram.«
Louise starrte sie eine Weile nur schweigend an, dann kam sie ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl vor Mauras Schreibtisch, als könnte sie sich plötzlich nicht mehr auf den Beinen halten. Trotz ihrer fünfzig Jahre schien Louise immer noch doppelt so viel Energie zu haben wie die zehn Jahre jüngere Maura. Doch heute Morgen wirkte sie erschöpft und ausgelaugt, ihr Gesicht hager und fahl im Schein des Neonlichts.
»Geht es Ihnen gut, Dr. Isles?«, fragte Louise leise.
»Ja, danke. Nur ein bisschen unausgeschlafen – der Jetlag, wissen Sie.«
»Ich meine – nach dem, was gestern Abend passiert ist.
Detective Frost schien sich so sicher zu sein, dass Sie es waren, in diesem Wagen …«
Maura nickte, und ihr Lächeln verflog. »Es war, als wäre ich irgendwie im falschen Film gelandet, Louise. Ich komme nichts ahnend nach Hause, und dann sehe ich plötzlich diese ganzen Streifenwagen vor meinem Haus stehen.«
»Es war schrecklich. Wir dachten alle …« Louise schluckte und senkte den Blick. »Ich war so erleichtert, als Dr. Bristol mich gestern Abend anrief, um mir zu sagen, dass es ein Irrtum war.«
In der folgenden Stille schien ein unausgesprochener Vorwurf in der Luft zu liegen. Und plötzlich dämmerte es Maura, dass sie selbst ihre Sekretärin hätte anrufen sollen. Es hätte ihr klar sein müssen, wie geschockt Louise war und dass sie sich freuen würde, Mauras Stimme zu hören. Ich lebe schon zu lange allein und ohne feste Bindungen, dachte sie, und komme gar nicht auf die Idee, dass es Leute geben könnte, denen es nicht gleichgültig ist, was mit mir passiert.
Louise stand auf. »Ich bin so froh, dass Sie wieder hier sind, Dr. Isles. Das wollte ich Ihnen nur sagen.«
»Louise?«
»Ja?«
»Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit aus Paris mitgebracht. Ich weiß, das klingt jetzt wie eine lahme Ausrede, aber sie ist in meinem Koffer, und den hat die Fluggesellschaft leider
verschlampt.«
»Oh.« Louise lachte. »Na ja, wenn es Pralinen sind – die wären sowieso ganz schlecht für meine Hüften.«
»Nichts Kalorienreiches, das verspreche ich Ihnen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch. »Ist Dr. Bristol schon im Haus?«
»Er ist gerade eben gekommen. Ich habe ihn auf dem Parkplatz gesehen.«
»Wissen Sie, wann er die Autopsie macht?«
»Welche? Er hat heute zwei.«
»Die tödliche Schussverletzung von gestern Abend. Die Frau.«
Louise sah sie eindringlich an. »Ich glaube, das ist die zweite auf seinem Terminplan.«
»Hat man sonst noch irgendetwas über die Frau herausgefunden?«
»Ich weiß es nicht. Da müssen Sie Dr. Bristol fragen.«
3
Obwohl sie selbst an diesem Tag keine Autopsien auf dem Dienstplan hatte, ging Maura um zwei Uhr hinunter ins Sektionsgeschoss und zog sich um. Sie war allein im Umkleideraum,
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