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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Schädel und Gebiss waren gemacht; das Pantomogramm hing am Leuchtkasten an der Wand, zwei weißlich schimmernde Zahnreihen, die sie anzugrinsen schienen. Würden meine Röntgenaufnahmen genauso aussehen?, fragte sie sich. Sind wir ein und dieselbe Person, identisch bis auf den letzten Backenzahn?
    Ihre Stimme kam ihr selbst unnatürlich ruhig vor, als sie fragte: »Haben Sie inzwischen mehr über sie herausgefunden?«zu
    »Wir sind noch dabei, diesen Namen zu überprüfen – Anna Jessop«, antwortete Rizzoli. »Bis jetzt haben wir nichts als den Führerschein, der vor vier Monaten in Massachusetts ausgestellt wurde. Darin steht, dass sie vierzig Jahre alt ist, ein Meter siebzig groß, mit schwarzem Haar und grünen Augen. Gewicht fünfundfünfzig Kilo.« Rizzoli betrachtete die Leiche auf dem Tisch. »Ich würde sagen, die Beschreibung passt auf sie.«
    Und auf mich auch, dachte Maura. Ich bin vierzig Jahre alt und eins siebzig groß. Nur das Gewicht weicht ein wenig ab;
ich wiege siebenundfünfzig Kilo. Aber welche Frau mogelt nicht, wenn sie bei der Führerscheinstelle ihr Gewicht angeben soll?
    Sie sah wortlos zu, wie Abe die äußere Besichtigung abschloss. Ab und zu trug er etwas in eine vorgedruckte schematische Darstellung eines weiblichen Körpers ein. Einschusswunde in der linken Schläfe. Leichenflecke im unteren Teil des Rumpfs und an den Oberschenkeln. Blinddarmnarbe. Dann legte er das Klemmbrett weg und ging zum Fußende des Tischs, um Vaginalabstriche zu entnehmen. Während er mit Yoshimas Hilfe die Oberschenkel nach außen drehte, um den Damm freizulegen, richtete Maura den Blick auf den Bauch der Toten. Sie starrte die Blinddarmnarbe an, die sich als dünner weißer Strich auf elfenbeinfarbener Haut abzeichnete.
    Ich habe auch eine.
    Abe hatte inzwischen die Abstriche gemacht und ging zu dem Tablett mit den Instrumenten. Er nahm das Skalpell zur Hand.
    Den ersten Schnitt konnte sie kaum mit ansehen. Maura fuhr sich sogar instinktiv mit der Hand an die Brust, als könne sie spüren, wie die Klinge sich in ihr eigenes Fleisch senkte. Das war ein Fehler, dachte sie, als Abe den Y-Schnitt machte. Ich weiß nicht, ob ich mir das ansehen kann. Aber dennoch blieb sie wie angewurzelt stehen, gebannt von einer Mischung aus Faszination und Entsetzen, während Abe die Haut von der Brustwand zurückschlug, sie behände abstreifte, als häutete er ein Stück Wild. So konzentriert war er damit beschäftigt, den Rumpf zu eröffnen, dass er Mauras schockierte Reaktion gar nicht bemerkte. Ein tüchtiger Pathologe kann eine einfache Autopsie in weniger als einer Stunde durchführen, und in diesem Stadium der Obduktion verlor Abe keine Zeit mit einer übertrieben eleganten Sektionstechnik. Maura hatte Abe immer sympathisch gefunden, mit seiner sinnlichen Freude am Essen und Trinken und seiner Liebe zur Oper, aber in diesem Augenblick
wirkte er mit seinem Schmerbauch und seinem Stiernacken auf sie wie ein feister Metzger, der mit seinem Messer das Fleisch des Schlachttiers zerteilt.
    Die Brusthaut war jetzt zurückgeschlagen, die Brüste von den umgeklappten Hautlappen verdeckt, Rippen und Muskeln lagen bloß. Yoshima beugte sich vor, die Gartenschere mit beiden Händen gepackt, und begann die Rippen zu durchtrennen. Bei jedem Schnitt zuckte Maura zusammen. Wie leicht ist doch ein menschlicher Knochen entzweigeschnitten, dachte sie. Wir bilden uns ein, dass unser Herz im stabilen Käfig der Rippen sicher geschützt ist, und doch genügt ein kurzer Druck, die Schere schnappt zu – und eine nach der anderen geben die Rippen unter dem gehärteten Stahl nach. Aus so zerbrechlichem Material sind wir gemacht.
    Yoshima schnitt den letzten Knochen durch, und Abe durchtrennte die verbliebenen Knorpel- und Muskelstränge. Gemeinsam hoben sie den Brustschild heraus, als sei es der Deckel einer Kiste.
    Herz und Lungen lagen glitzernd in der offenen Brusthöhle. Junge Organe, das war Mauras erster Gedanke. Aber nein, korrigierte sie sich; mit vierzig Jahren war man doch nicht mehr ganz jung, oder? Es war nicht leicht, sich einzugestehen, dass sie mit vierzig bereits den Zenit ihres Lebenswegs erreicht hatte. Dass sie, ebenso wie die Frau vor ihr auf dem Tisch, beim besten Willen nicht mehr als jung gelten konnte.
    Die Organe, die sie in der offenen Brusthöhle erkennen konnte, schienen normal ausgebildet, ohne offensichtliche pathologische Befunde. Mit ein paar raschen Schnitten trennte Abe Lungen und Herz heraus und legte die

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