Schwesternmord
nicht die Versuchung erschaffen dürfen.
Er strich die Gurkenscheiben mit der Messerklinge in die Schüssel und spülte das Messer ab. Sie betrachtete ihn, als er mit dem Rücken zu ihr an der Spüle stand. Er hatte die hoch gewachsene, drahtige Figur eines Langstreckenläufers. Warum tue ich mir das an?, fragte sie sich. Warum muss es von allen Männern, zu denen ich mich hingezogen fühlen könnte, ausgerechnet dieser sein?
»Sie wollten wissen, warum ich mich für das Priesteramt entschieden habe«, sagte er.
»Und?«
Er drehte sich um und sah sie an. »Meine Schwester hatte Leukämie.«
Sie war so überrascht, dass ihr die Worte fehlten. Nichts, was sie hätte sagen können, schien wirklich angemessen.
»Sophie war sechs Jahre alt«, sagte er. »Das Nesthäkchen der Familie und das einzige Mädchen.« Er griff nach einem Küchentuch, um sich die Hände abzutrocknen, und hängte es anschließend sorgfältig zurück an die Stange, als brauchte er die Zeit, um seine nächsten Worte abzuwägen. »Es handelte sich um akute lymphatische Leukämie. Man könnte wohl sagen, das ist die gute Variante, falls man bei Leukämie überhaupt von ›gut‹ sprechen kann.«
»Es ist die Variante mit der besten Prognose bei Kindern. Eine Überlebensrate von achtzig Prozent.« Eine korrekte Aussage, und doch bereute sie ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Die logische Dr. Isles, die auf menschliche Tragödien mit ihren üblichen hilfreichen Fakten und herzlosen Statistiken reagierte. So hatte sie sich schon immer
beholfen, um mit den chaotischen Emotionen der Menschen um sie herum fertig zu werden – indem sie sich auf die Rolle der Wissenschaftlerin zurückgezogen hatte. Ein Bekannter ist gerade an Lungenkrebs gestorben? Eine Verwandte ist nach einem Autounfall querschnittgelähmt? Für jede Tragödie konnte sie eine passende Statistik zitieren, konnte Trost in der nüchternen Gewissheit der Zahlen finden. In dem Glauben, dass sich für jedes schreckliche Ereignis eine logische Erklärung finden lässt.
Sie fragte sich, ob Daniel sie wegen ihrer Reaktion für distanziert oder gar gefühllos hielt. Aber er schien keinen Anstoß daran zu nehmen. Er nickte nur und akzeptierte ihre statistische Information in dem Sinn, in dem sie gemeint war, als schlichte Tatsache.
»Damals sah die Fünfjahres-Überlebensrate noch nicht ganz so rosig aus«, sagte er. »Als wir die Diagnose bekamen, war sie bereits sehr krank. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie furchtbar das für uns alle war. Ganz besonders für meine Mutter. Ihre einzige Tochter. Ihr Baby. Ich war damals vierzehn, und irgendwie war mir die Aufgabe zugefallen, auf Sophie aufzupassen. Sie wurde natürlich von allen verhätschelt, aber bei all der Zuwendung, die sie bekam, benahm sie sich niemals wie ein verzogenes Nesthäkchen. Sie war immer noch das süßeste und liebste Mädchen, das man sich vorstellen konnte.« Immer noch sah er Maura nicht in die Augen; er hielt den Blick gesenkt, als widerstrebte es ihm, das Ausmaß seines Schmerzes zu zeigen.
»Daniel?«, sagte sie.
Er holte tief Luft und richtete sich auf. »Ich weiß nicht recht, wie ich diese Geschichte einer gestandenen Skeptikerin wie Ihnen erzählen soll.«
»Was ist passiert?«
»Ihr Arzt teilte uns mit, dass sie unheilbar krank sei und nicht mehr lange zu leben habe. Und damals war es ja so, dass man das Urteil eines Arztes niemals anzuzweifeln gewagt hätte. An diesem Abend gingen meine Eltern und
meine Brüder in die Kirche. Um für ein Wunder zu beten, denke ich. Ich blieb im Krankenhaus, damit Sophie nicht allein war. Sie war inzwischen ganz kahl. Durch die Chemotherapie waren ihr alle Haare ausgefallen. Ich weiß noch, wie sie auf meinem Schoß eingeschlafen ist. Und wie ich gebetet habe. Ich betete stundenlang, machte Gott alle möglichen Versprechungen. Ich glaube, wenn sie gestorben wäre, hätte ich nie wieder eine Kirche betreten.«
»Aber sie hat überlebt«, sagte Maura leise.
Er sah sie an und lächelte. »Ja, das hat sie. Und ich habe alle meine Versprechen gehalten. Jedes einzelne. Denn an diesem Tag hat er mich erhört. Daran habe ich keinen Zweifel.«
»Wo ist Sophie heute?«
»Sie ist glücklich verheiratet und lebt in Manchester. Hat zwei Adoptivkinder.« Er setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch. »Und so wurde ich zu dem, der ich bin.«
»Pater Brophy.«
»Jetzt wissen Sie, was der Grund für meine Entscheidung war.«
Und war es die richtige Entscheidung?
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