Schwesternmord
stand und sie beobachtete. Natürlich, sie wunderte sich über Daniels Besuch. Sie war nicht blind; sie konnte sehen, dass sich da etwas zwischen ihnen entwickelte, was über eine reine Freundschaft hinausging.
»Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?«, fragte Maura.
»Das wäre prima. Aber nichts Alkoholisches.« Rizzoli tätschelte ihren Bauch. »Mein Untermieter ist für so was noch zu jung.«
»Natürlich.«
Maura zwang sich, die gute Gastgeberin zu spielen, und ging voran in die Küche, wo sie Eiswürfel in zwei Gläser warf und diese mit Orangensaft auffüllte. In ihres gab sie noch einen Schuss Wodka. Als sie sich umdrehte, um die Gläser auf den Küchentisch zu stellen, sah sie, wie Rizzoli einen Ordner aus der Aktentasche nahm und ihn auf den Tisch legte.
»Was ist das?«, fragte Maura.
»Setzen wir uns doch erst mal, Doc. Was ich Ihnen sagen werde, könnte Sie ein bisschen aus der Fassung bringen.«
Maura ließ sich auf einen Stuhl sinken, und auch Rizzoli setzte sich. Sie sahen sich über den Tisch hinweg an; zwischen ihnen lag der Aktenordner. Eine Büchse der Pandora, dachte Maura und starrte den Ordner an. Vielleicht will ich gar nicht so genau wissen, welche Geheimnisse darin verborgen sind.
»Erinnern Sie sich noch an das, was ich Ihnen letzte Woche über Anna Jessop gesagt habe? Dass wir fast keine Dokumente über sie finden konnten, die älter waren als sechs Monate? Und dass die einzige Adresse, die wir von ihr hatten, eine leere Wohnung war?«
»Sie nannten sie ein Phantom.«
»Das stimmt auch in gewisser Weise. Anna Jessop hat eigentlich nie existiert.«
»Wie ist das möglich?«
»Es gab keine Anna Jessop, weil das nur ein Deckname war. In Wirklichkeit hieß sie Anna Leoni. Vor ungefähr sechs Monaten hat sie eine völlig neue Identität angenommen. Sie begann ihre Konten aufzulösen und zog schließlich aus ihrem Haus aus. Unter dem neuen Namen mietete sie eine Wohnung in Brighton, ohne dass sie je die Absicht gehabt hätte, dort einzuziehen. Es war nur eine Sackgasse, eine falsche Spur, für den Fall, das irgendjemand ihren neuen Namen herausbekäme. Dann packte sie ihre Siebensachen und ging nach Maine. In eine Kleinstadt an der Küste, ungefähr auf halbem Weg zur kanadischen Grenze. Dort hat sie die letzten zwei Monate gelebt.«
»Wie haben Sie das alles herausgefunden?«
»Ich habe mit dem Polizisten gesprochen, der ihr dabei geholfen hat.«
»Ein Polizist?«
»Ein Detective Ballard vom Revier Newton.«
»Dieser Deckname – den hat sie also nicht angenommen, weil sie auf der Flucht vor der Polizei war?«
»Nein. Sie können wahrscheinlich erraten, wovor sie davongelaufen ist. Es ist eine alte Geschichte.«
»Ein Mann?«
»Ein sehr reicher Mann unglücklicherweise. Dr. Charles Cassell.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Castle Pharmaceuticals. Er hat die Firma gegründet. Anna hat in seinem Unternehmen in der Forschungsabteilung gearbeitet. Sie hatten ein Verhältnis, aber nach drei Jahren versuchte sie sich von ihm zu trennen.«
»Und er wollte sie nicht gehen lassen.«
»Dr. Cassell ist allem Anschein nach ein Mann, den man nicht einfach so verlässt. Eines Abends erschien sie mit einem blauen Auge in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Newton. Und dann wurde es so richtig schlimm. Er hat ihr nachgestellt. Ihr Morddrohungen geschickt. Eines
Tages fand sie gar einen toten Kanarienvogel in ihrem Briefkasten.«
»Mein Gott.«
»Tja, das ist wahre Liebe. Manchmal gibt es nur zwei Möglichkeiten, einen Mann loszuwerden, der einem wehtut – ihn erschießen oder sich verstecken. Vielleicht wäre sie heute noch am Leben, wenn sie sich für die erste entschieden hätte.«
»Er hat sie gefunden.«
»Wir müssen es nur noch beweisen.«
»Und können Sie das?«
»Wir haben Dr. Cassell noch nicht vernehmen können. Praktischerweise hat er Boston am Morgen nach dem Mord verlassen. Er war die ganze letzte Woche geschäftlich unterwegs und wird erst morgen zurückerwartet.« Rizzoli hob das Glas Orangensaft an die Lippen, und das Klirren der Eiswürfel zerrte an Mauras Nerven. Nachdem sie das Glas wieder abgesetzt hatte, schwieg Rizzoli einen Moment. Sie schien zu zögern – aber wieso? Maura hielt es fast nicht mehr aus.
»Es gibt noch etwas, was Sie über Anna Leoni wissen sollten«, sagte Rizzoli. Sie wies auf den Ordner auf dem Tisch. »Das habe ich Ihnen mitgebracht.«
Maura schlug den Ordner auf, und der Schock des Wiedererkennens ließ sie zusammenfahren. Es
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