Schwesternmord
war eine Farbkopie eines Fotos im Brieftaschenformat. Ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren und ernstem Blick stand zwischen einem älteren Paar; der Mann und die Frau hatten die Arme schützend um das Kind gelegt. Leise sagte sie: »Dieses Mädchen könnte ich sein.«
»Das hatte sie in ihrer Brieftasche. Wir glauben, dass das Mädchen Anna im Alter von etwa zehn Jahren ist, mit ihren Eltern, Ruth und William Leoni. Sie leben beide nicht mehr.«
»Das sind ihre Eltern?«
»Ja.«
»Aber … sie sind so alt.«
»Ja, das waren sie tatsächlich. Ruth, die Mutter, war zweiundsechzig, als dieses Foto gemacht wurde.« Rizzoli machte eine Pause. »Anna war ihr einziges Kind.«
Ein Einzelkind. Relativ alte Eltern. Ich weiß, worauf das hinausläuft, dachte Maura, und ich habe Angst vor dem, was sie mir gleich sagen wird. Das ist der wahre Grund, weshalb sie mich heute aufgesucht hat. Es geht nicht nur um Anna Leoni und ihren prügelnden Ex, es geht um etwas viel Schockierenderes.
Maura blickte zu Rizzoli auf. »Sie wurde adoptiert?«
Rizzoli nickte. »Als Anna geboren wurde, war Mrs. Leoni zweiundfünfzig Jahre alt.«
»Zu alt nach den Kriterien der meisten Agenturen.«
»Und deshalb waren sie wahrscheinlich gezwungen, eine private Adoption über einen Anwalt in die Wege zu leiten.«
Maura dachte an ihre eigenen Eltern, die beide tot waren. Auch sie waren schon älter gewesen, in den Vierzigern.
»Was wissen Sie über Ihre eigene Adoption, Doc?«
Maura holte tief Luft. »Nach dem Tod meines Vaters habe ich meine Adoptionspapiere gefunden. Es lief alles über einen Anwalt hier in Boston. Ich habe ihn vor ein paar Jahren angerufen, um herauszufinden, ob er mir vielleicht den Geburtsnamen meiner Mutter verraten würde.«
»Und, hat er?«
»Er sagte, meine Unterlagen seien versiegelt. Er weigerte sich, irgendwelche Informationen herauszugeben.«
»Und haben Sie die Sache weiter verfolgt?«
»Nein.«
»War der Name des Anwalts Terence Van Gates?«
Maura blieb stumm. Sie musste die Antwort auf die Frage nicht aussprechen; sie wusste, dass Rizzoli sie an ihrem betroffenen Blick ablesen konnte. »Woher wissen Sie das?«, fragte Maura.
»Zwei Tage vor ihrem Tod hat Anna sich ein Zimmer im Tremont Hotel hier in Boston genommen. Von diesem
Zimmer aus hat sie zwei Telefonate geführt. Das erste mit Detective Ballard, der zu der Zeit nicht in der Stadt war. Das zweite mit Van Gates’ Kanzlei. Wir wissen nicht, warum sie ihn kontaktiert hat – bis jetzt hat er auf meine Anrufe nicht reagiert.«
Jetzt kommt die Enthüllung, dachte Maura. Der wahre Grund, weshalb sie heute Abend hier in meiner Küche ist.
»Wir wissen, dass Anna Leoni adoptiert wurde. Sie hat Ihre Blutgruppe und ist am selben Tag geboren wie Sie. Und kurz bevor sie starb, hat sie mit Van Gates telefoniert – mit dem Anwalt, der Ihre Adoption abgewickelt hat. Eine erstaunliche Ansammlung von Zufällen.«
»Seit wann wissen Sie das alles?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Und Sie haben es mir nicht gesagt? Sie haben mir diese Informationen vorenthalten.«
»Ich wollte nicht, dass Sie sich grundlos aufregen.«
»Aber ich rege mich auf, weil Sie so lange gewartet haben!«
»Das ging nicht anders, denn es gab da etwas, was ich vorher noch klären musste.« Rizzoli atmete tief durch. »Heute Nachmittag habe ich mit Walter de Groot vom DNA-Labor gesprochen. Anfang der Woche hatte ich ihn gebeten, so schnell wie möglich den Test durchzuführen, den Sie verlangt hatten. Und heute Nachmittag hat er mir die Autoradiogramme gezeigt, die er entwickelt hat. Er hat zwei separate VNTR-Profile angefertigt. Eines von Anna Leoni, das andere von Ihnen.«
Maura saß stocksteif da und wartete nur noch auf den Schlag, der sie jeden Moment treffen musste.
»Sie stimmen überein«, sagte Rizzoli. »Die beiden genetischen Profile sind identisch.«
7
Die Küchenuhr tickte an der Wand. In den Gläsern auf dem Tisch schmolzen langsam die Eiswürfel. Die Zeit verstrich, doch Maura hatte das Gefühl, in diesem einen Augenblick gefangen zu sein, während Rizzolis Worte wie eine Endlosschleife in ihrem Kopf abliefen.
»Es tut mir Leid«, sagte Rizzoli. »Ich wusste nicht, wie ich es Ihnen sonst beibringen sollte. Aber ich dachte mir, Sie haben ein Recht, zu erfahren, dass Sie …«
Dass ich eine Schwester hatte. Von deren Existenz ich nichts wusste. Und die jetzt tot ist.
Rizzoli streckte die Hand aus und ergriff Mauras Hand. Das war sonst nicht ihre Art; Rizzoli war
Weitere Kostenlose Bücher