Schwesternmord
und Leder. Mahagoniregale voller juristischer Fachzeitschriften und Gesetzestexte. Kein Hauch von Rosa. Das hier war eindeutig sein Reich, eine bonniefreie Zone.
»Ich weiß nicht so recht, wie ich Ihnen helfen kann, Detective«, sagte er. »Die Adoption, nach der Sie gefragt haben, liegt vierzig Jahre zurück.«
»Also nicht gerade in grauer Vorzeit.«
Er lachte. »Ich bezweifle, dass Sie damals überhaupt schon auf der Welt waren.«
War das ein kleiner Seitenhieb? Seine Art, ihr zu verklickern, dass sie zu jung war, um ihn mit solchen Fragen zu belästigen?
»Sie erinnern sich nicht an die beteiligten Personen?«
»Ich will damit nur sagen, dass es sehr lange her ist. Damals war ich gerade erst mit dem Studium fertig. Ich habe in einem gemieteten Büro mit gemieteten Möbeln gearbeitet, ohne Sekretärin. Bin selbst ans Telefon gegangen. Ich habe jeden Fall angenommen, der mir angetragen wurde – Scheidungen, Adoptionen, Fahren unter Alkoholeinfluss. Alles, was mir half, die Miete zu zahlen.«
»Und diese Akten haben Sie natürlich immer noch. Die von Ihren damaligen Fällen.«
»Die müssten alle eingelagert sein.«
»Wo?«
»Firma File-Safe, in Quincy. Aber bevor wir weiterreden, muss ich Ihnen etwas sagen. Die an dem besagten Fall beteiligten Parteien haben auf absoluter Verschwiegenheit bestanden. Die leibliche Mutter wollte anonym bleiben.
Die Unterlagen wurden schon vor vielen Jahren versiegelt.«
»Es handelt sich hier um Ermittlungen in einem Mordfall, Mr. Van Gates. Eines der beiden Adoptivkinder ist tot.«
»Ja, ich weiß. Aber ich kann nicht erkennen, was das mit ihrer Adoption vor vierzig Jahren zu tun haben soll. Inwiefern ist das für Ihre Ermittlungen relevant?«
»Warum hat Anna Leoni Sie angerufen?«
Sie konnte sehen, wie er erschrak. Nichts, was er danach sagte, konnte diese anfängliche Reaktion vertuschen, diesen Ausdruck, der das mimische Äquivalent eines Ups! darstellte.
»Pardon?«, sagte er.
»Am Tag, bevor sie ermordet wurde, hat Anna Leoni aus dem Tremont Hotel in Ihrer Kanzlei angerufen. Wir haben gerade die Anruflisten hereinbekommen. Das Gespräch dauerte siebenunddreißig Minuten. Also, über irgendetwas müssen Sie ja geredet haben in diesen siebenunddreißig Minuten. Sie können die arme Frau doch nicht die ganze Zeit in der Warteschleife gehalten haben?«
Er schwieg.
»Mr. Van Gates?«
»Dieses – dieses Gespräch war vertraulich.« »Ms. Leoni war Ihre Mandantin? Sie haben ihr das Telefonat in Rechnung gestellt?«
»Nein, aber …«
»Dann sind Sie also nicht an die anwaltliche Schweigepflicht gebunden.«
»Aber ich bin einer anderen Mandantin gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet.«
»Der leiblichen Mutter.«
»Nun, sie war meine Mandantin. Sie hat ihre Kinder unter einer Bedingung hergegeben – ihr Name sollte nie genannt werden.«
»Das war vor vierzig Jahren. Vielleicht hat sie inzwischen ihre Meinung geändert.«
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben ist.«
»Hat Anna Sie deswegen angerufen? Um Sie nach ihrer Mutter zu fragen?«
Er lehnte sich zurück. »Adoptivkinder sind oft neugierig auf ihre Herkunft. Bei manchen wächst sich das zu einer wahren Besessenheit aus. Also machen sie sich auf die Jagd nach Dokumenten. Investieren Tausende von Dollar und eine Menge Seelenqualen in die Suche nach Müttern, die gar nicht gefunden werden möchten. Und wenn sie sie finden, gibt es nur äußerst selten das erhoffte Happy End. Das war es, was ihr vorschwebte, Detective. Ein Happy End wie im Märchen. Manchmal ist es für diese Leute besser, wenn sie die Sache einfach vergessen und ihr Leben weiterleben wie zuvor.«
Rizzoli dachte an ihre eigene Kindheit, ihre eigene Familie. Sie hatte immer gewusst, wer sie war. Sie konnte ihre Großeltern, ihre Eltern anschauen und die Blutsverwandtschaft in ihren Gesichtern erkennen. Sie war eine von ihnen, bis in ihre DNA hinein, und auch wenn ihre Verwandten sie bisweilen noch so sehr ärgerten oder blamierten, sie wusste doch stets, dass sie ihre Familie waren.
Aber Maura Isles hatte sich selbst nie in den Augen einer Großmutter oder einer Mutter gesehen. Wenn Maura durch die Stadt ging, studierte sie dann die Gesichter der Passanten, suchte sie darin nach einem Echo ihrer eigenen Züge? Nach einem Mund oder einer Nase, deren Formen und Konturen ihr vertraut vorkamen? Rizzoli konnte diesen unbändigen Wunsch, die eigene Herkunft
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