Schwesternmord
zu kennen, sehr gut verstehen. Zu wissen, dass man nicht nur ein abgebrochener Zweig ist, sondern der Ast eines fest verwurzelten Baumes.
Sie sah Van Gates direkt in die Augen. »Wer ist Anna Leonis Mutter?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich sage es noch einmal. Das ist nicht relevant für Ihre …«
»Das lassen Sie mal mich entscheiden. Nennen Sie mir einfach nur den Namen.«
»Warum? Damit Sie Unruhe in das Leben einer Frau bringen können, die vielleicht lieber nicht an ihre Jugendsünde erinnert werden möchte? Was hat das mit dem Mordfall zu tun?«
Rizzoli beugte sich vor und legte beide Hände auf seinen Schreibtisch, ein aggressiver Übergriff auf seinen persönlichen Bereich. Süße kleine Barbies taten so etwas vielleicht nicht, aber weibliche Cops aus Revere ließen sich nicht so leicht einschüchtern.
»Wir können Ihre Akten beschlagnahmen lassen. Oder ich kann Sie höflich darum bitten.«
Sie starrten einander ein paar Sekunden lang finster an. Dann signalisierte er mit einem tiefen Seufzer seine Kapitulation. »Na ja, ich muss mir das ja nicht noch einmal antun. Ich sag’s Ihnen ganz einfach, okay? Der Name der Mutter war Amalthea Lank. Sie war damals vierundzwanzig Jahre alt. Und sie brauchte Geld – dringend.«
Rizzoli runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, dass sie dafür bezahlt wurde, dass sie ihre Babys hergab?«
»Nun …«
»Wie viel?«
»Es war eine beträchtliche Summe. Genug, um ihr einen Neuanfang zu ermöglichen.«
»Wie viel?«
Er blinzelte nervös. »Es waren je zwanzigtausend Dollar.«
»Für jedes Kind ?«
»Zwei überglückliche Familien bekamen je ein Kind. Und sie bekam das Geld. Glauben Sie mir, heute bezahlen Adoptiveltern wesentlich höhere Summen. Wissen Sie, wie schwierig es ist, heutzutage ein gesundes weißes Baby zu bekommen? Es gibt einfach nicht genug für alle. Es ist eine Sache von Angebot und Nachfrage, sonst nichts.«
Rizzoli ließ sich in den Sessel zurücksinken. Die Vorstellung,
dass eine Mutter es fertig brachte, ihre Kinder für klingende Münze zu verscherbeln, schockierte sie.
»Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann«, fuhr Van Gates fort. »Wenn Sie mehr wissen wollen – tja, dann sollten Sie vielleicht mal ein bisschen mehr mit Ihren Kollegen kommunizieren. Das würde Ihnen eine Menge Zeit sparen.«
Die letzte Bemerkung machte sie stutzig. Dann fiel ihr ein, was er kurz zuvor gesagt hatte: Ich muss mir das ja nicht noch einmal antun.
»Wer hat sich sonst noch bei Ihnen nach dieser Frau erkundigt?«, fragte sie.
»Ihr Polizisten seid doch alle gleich. Ihr platzt hier herein, ihr droht, mir das Leben zur Hölle zu machen, wenn ich nicht kooperiere …«
»Es war ein Polizist?«
»Ja.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht mehr. Es ist Monate her. Ich muss seinen Namen verdrängt haben.«
»Warum wollte er den Namen von Ihnen wissen?«
»Weil sie ihn dazu angestiftet hatte. Sie waren zusammen hier.«
»Anna Leoni war zusammen mit diesem Polizisten bei Ihnen?«
»Er hat es für sie getan. Aus reiner Gefälligkeit.« Van Gates schnaubte verächtlich. »Wir sollten alle einen Polizisten an unserer Seite haben, der uns Gefälligkeiten erweist.«
»Das war vor einigen Monaten? Und sie waren zusammen hier?«
»Das sagte ich doch gerade.«
»Und Sie haben ihr den Namen ihrer Mutter genannt?«
»Ja.«
»Und wieso hat Anna Sie dann letzte Woche angerufen? Wenn sie doch den Namen ihrer Mutter schon kannte?«
»Sie hatte ein gewisses Foto im Boston Globe gesehen. Von einer Dame, die ihr aufs Haar glich.«
»Dr. Maura Isles.«
Er nickte. »Ms. Leoni hat mich direkt danach gefragt, also habe ich es ihr gesagt.«
»Was haben Sie ihr gesagt?«
»Dass sie eine Schwester hatte.«
13
Die Knochen warfen all ihre Pläne über den Haufen.
Maura hatte vorgehabt, noch an diesem Abend nach Boston zurückzufahren. Stattdessen kehrte sie nur rasch zum Haus zurück, um ihre unpassende Kleidung gegen Jeans und ein T-Shirt zu tauschen, und fuhr dann mit ihrem eigenen Wagen zur Lichtung. Ich bleibe noch ein bisschen hier, dachte sie, und um vier fahre ich dann. Aber je weiter der Nachmittag vorrückte, desto mehr verlor Maura jedes Gefühl für die Zeit. Das Spurensicherungsteam aus Augusta rückte an, und Suchtrupps begannen das Gitternetz abzuschreiten, mit dem Corso die Lichtung in Rasterquadrate eingeteilt hatte. Maura machte nur einmal eine kurze Pause, um eines der Hähnchen-Sandwiches hinunterzuschlingen, die freiwillige Helfer für die
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