Schwesternmord
Gefangene darauf.
»So ist’s gut, Amalthea. Die Dame dort ist gekommen, um dich zu besuchen. Warum unterhältst du dich nicht ein bisschen mit ihr, hmm?«
Amalthea hielt den Kopf immer noch gesenkt, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Wirre, fettige Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn und bedeckten die Augen wie ein Vorhang. Obwohl schon stark mit Grau durchsetzt, war das Haar früher eindeutig schwarz gewesen. Genau wie meines, dachte Maura. Wie Annas.
Die Aufseherin zuckte mit den Achseln und sah Maura an. »Tja, dann lasse ich Sie beide mal allein. Wenn Sie fertig sind, winken Sie einfach, dann bringe ich Amalthea zurück.«
Amalthea blickte nicht einmal auf, als die Aufseherin sich entfernte. Und ebenso wenig schien sie die Besucherin zu bemerken, die sich gerade ihr gegenüber an den Tisch gesetzt hatte. Ihre Haltung blieb erstarrt, ihr Gesicht hinter dem Schleier aus schmutzigen Haaren verborgen. Der Gefängniskittel hing ihr lose um die Schultern, als ob ihre Kleider ihr mit der Zeit zu groß geworden wären. Die Hand, die sie auf den Tisch gelegt hatte, wurde von einem unaufhörlichen Tremor geschüttelt.
»Hallo, Amalthea«, sagte Maura. »Weißt du, wer ich bin?« Keine Antwort.
»Mein Name ist Maura Isles. Ich…« Maura schluckte. »Ich habe sehr lange nach dir gesucht.« Mein ganzes Leben lang.
Der Kopf der Frau zuckte zur Seite. Keine Reaktion auf Mauras Worte, nur ein unwillkürliches Zucken. Ein verirrter Impuls, der durch Nerven und Muskeln schoss.
»Amalthea, ich bin deine Tochter.«
Maura beobachtete sie, lauerte auf eine Reaktion. Sehnte sie regelrecht herbei. In diesem Augenblick schien alles um sie herum plötzlich verschwunden. Sie hörte nicht die Kakophonie der Kinderstimmen, das Geräusch der Vierteldollarmünzen, die in den Schlitz des Automaten gesteckt wurden, das Scharren der Stuhlbeine auf dem Linoleum. Sah nichts als diese müde, gebrochene Frau.
»Kannst du mich ansehen? Bitte, sieh mich an !«
Endlich hob sich der Kopf, in kleinen, ruckartigen Bewegungen, wie bei einer beweglichen Puppe, deren Mechanismus verrostet ist. Das ungekämmte Haar teilte sich, und die Augen richteten sich auf Maura. Unergründliche Augen. Maura sah nichts darin. Kein bewusstes Erkennen, keine Seele. Amaltheas Lippen bewegten sich, doch es war kein
Laut zu hören. Wieder nur ein unwillkürliches Muskelzucken, ohne Absicht, ohne Bedeutung.
Ein kleiner Junge kam vorbeigewackelt und zog einen Hauch von nassen Windeln hinter sich her. Am Nebentisch saß eine Frau mit schmutzig blonden Haaren in einem Drillichanzug, das Gesicht in den Händen vergraben, und schluchzte leise, während ihr männlicher Besucher sie mit ausdrucksloser Miene anstarrte. In dieser Minute spielten sich ringsumher ein Dutzend Familiendramen wie Mauras ab; sie war nur eine unter vielen Statistinnen und Statisten, die nicht über den Tellerrand ihrer eigenen Krise hinausblicken konnten.
»Meine Schwester hat dich besucht«, sagte Maura. »Sie sah genauso aus wie ich. Erinnerst du dich an sie?«
Amaltheas Unterkiefer bewegte sich nun, als ob sie etwas kaute. Eine imaginäre Mahlzeit, die nur sie selbst schmecken konnte.
Nein, natürlich erinnert sie sich nicht daran, dachte Maura und blickte frustriert in Amaltheas ausdrucksloses Gesicht. Sie begreift nicht, wer ich bin oder warum ich hier bin. Ich rufe in eine leere Höhle hinein, und als Antwort höre ich nur das Echo meiner eigenen Stimme.
Entschlossen, eine Reaktion aus ihr herauszuholen, ganz gleich welche, sagte Maura mit bewusster, fast brutaler Direktheit: »Anna ist tot. Deine andere Tochter ist tot. Hast du das gewusst?«
Keine Antwort.
Warum gebe ich mir überhaupt noch Mühe? Da drin ist niemand zu Hause. In diesen Augen brennt kein Licht.
»Tja«, sagte Maura. »Ich komme später noch mal vorbei. Vielleicht willst du ja dann mit mir reden.« Mit einem Seufzer stand Maura auf und blickte sich nach der Aufseherin um. Sie entdeckte sie am anderen Ende des Raumes. Maura hatte gerade die Hand gehoben, um sie herbeizuwinken, als sie die Stimme hörte. Ein Flüstern, so leise, dass sie es sich auch eingebildet haben könnte.
»Verschwinde.«
Verblüfft starrte Maura auf Amalthea hinunter, die in vollkommen unveränderter Haltung dasaß, ein Zucken um die Mundwinkel, der Blick so leer wie zuvor.
Langsam ließ Maura sich wieder auf den Stuhl sinken. »Was hast du gesagt?«
Amalthea hob die Augen und sah sie an. Und für einen kurzen Moment erkannte
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