Schwesternmord
Maura darin einen Funken von Klarheit. Von Intelligenz. »Verschwinde. Bevor er dich sieht.«
Maura riss die Augen auf. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und ihre Nackenhaare richteten sich auf.
Die Frau mit den schmutzig blonden Haaren am Nebentisch weinte immer noch. Ihr Besucher stand auf und sagte: »Es tut mir Leid, aber du musst das einfach akzeptieren. So ist es nun mal.« Dann ging er hinaus, zurück zu seinem Leben außerhalb der Gefängnismauern, wo die Frauen hübsche Blusen und nicht grobe Baumwollkittel trugen. Wo man verschlossene Türen jederzeit aufsperren konnte.
»Wer?«, fragte Maura leise. Amalthea gab keine Antwort. »Wer wird mich sehen, Amalthea?«, bedrängte Maura sie. »Was meinst du damit?«
Aber erneut hatte sich ein Schleier über Amaltheas Augen gelegt. Das kurze Aufflackern war verloschen, und Maura blickte wieder ins Leere.
»Na, sind wir fertig mit unserem Besuch?«, fragte die Aufseherin munter.
»Ist sie immer so?«, fragte Maura, während sie zusah, wie Amaltheas Lippen lautlos Worte formten.
»Mehr oder weniger. Sie hat gute und schlechte Tage.«
»Sie hat so gut wie nicht mit mir geredet.«
»Das wird schon noch, wenn sie Sie mal besser kennt. Die meiste Zeit ist sie sehr verschlossen, aber dann und wann kommt sie auch raus aus ihrem Schneckenhaus. Schreibt Briefe, telefoniert sogar.«
»Wen ruft sie an?«
»Das weiß ich nicht. Ihre Therapeutin, nehme ich an.«
»Dr. O’Donnell?«
»Die blonde Lady. Sie war schon öfter hier, deshalb ist Amalthea schon ganz vertraut mit ihr. Nicht wahr, Schätzchen?« Die Aufseherin nahm die Gefangene am Arm und sagte: »Hopp, auf! Jetzt geht’s zurück in die gute Stube.«
Gehorsam erhob sich Amalthea und ließ sich von der Aufseherin vom Tisch wegführen. Doch schon nach wenigen Schritten blieb sie stehen.
»Na komm schon, Amalthea.«
Doch die Gefangene rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand da, als seien ihre Muskeln urplötzlich erstarrt.
»Schätzchen, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Komm jetzt.«
Ganz langsam drehte Amalthea sich um. Ihre Augen waren immer noch leer. Die Stimme, mit der sie die nächsten Worte sprach, hatte etwas Mechanisches, nicht ganz Menschliches. Die Stimme eines fremdartigen Wesens, die durch eine Maschine sprach. Sie sah Maura an.
»Jetzt wirst du auch sterben«, sagte sie. Dann wandte sie sich ab und schlurfte davon, zurück in ihre Zelle.
»Sie leidet unter tardiver Dyskinesie«, sagte Maura. »Deshalb hat Superintendent Gurley versucht, mir den Besuch auszureden. Sie wollte nicht, dass ich Amalthea in diesem Zustand zu Gesicht bekomme. Ich sollte nicht erfahren, was sie mit ihr gemacht haben.«
»Und was genau haben sie mit ihr gemacht?«, fragte Rizzoli. Sie saß wieder am Steuer und lenkte den Wagen unerschrocken an Lastzügen vorbei, die den Asphalt erbeben ließen und den kleinen Subaru durchschüttelten, wenn er aus ihrem Windschatten herausfuhr. »Wollen Sie andeuten, dass sie sie in eine Art Zombie verwandelt haben?«
»Sie haben doch ihre Psychiatrieakte gesehen. Ihre ersten Ärzte haben sie mit Phenothiazinen behandelt. Das ist eine Gruppe von Medikamenten, die gegen Psychosen eingesetzt werden. Bei älteren Patientinnen können diese Medikamente
verheerende Nebenwirkungen haben. Eine davon nennt sich tardive Dyskinesie – unfreiwillige Bewegungen des Gesichts und des Mundes. Die Patientin kann nicht aufhören zu kauen, die Backen aufzublasen oder die Zunge herauszustrecken. Sie kann diese Bewegungen nicht kontrollieren. Stellen Sie sich nur mal vor, wie das ist. Alle starren Sie an, weil Sie so seltsame Grimassen schneiden. Sie werden begafft wie eine Jahrmarktsattraktion.«
»Wie kann man diese Bewegungen abstellen?«
»Das kann man nicht. Sie hätten die Medikamente absetzen sollen, sobald die ersten Symptome auftraten. Aber sie haben zu lange gewartet. Dann befasste Dr. O’Donnell sich mit dem Fall. Sie war es, die die Medikation endlich absetzte, als ihr klar wurde, was da passiert war.« Maura seufzte verärgert. »Die tardive Dyskinesie ist wahrscheinlich irreversibel.« Sie blickte aus dem Fenster auf den dichter werdenden Verkehr. Diesmal machte es ihr keine Angst, die tonnenschweren Stahlungetüme vorüberdonnern zu sehen. Sie dachte nur an Amalthea Lank, an diese Lippen, die sich unaufhörlich bewegten, als flüsterten sie Geheimnisse.
»Soll das heißen, dass sie diese Medikamente gar nicht gebraucht hätte?«
»Nein. Ich will damit nur
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