Schwesternmord
die gleiche Nummer abzuziehen versucht wie Ballard bei Ihnen – diese Macho-Beschützer-Nummer. Und ich war stinksauer auf ihn. Ich will damit sagen, dass man nicht immer vorher wissen kann, ob ein Typ auf Dauer etwas taugt.«
Maura dachte an Victor. An das Desaster ihrer Ehe. »Nein, das kann man nicht.«
»Aber für den Anfang kann man sich schon mal auf das Mögliche konzentrieren, auf Beziehungen, die eine Chance haben. Und die Typen vergessen, mit denen es sowieso nie was werden kann.« Obwohl sie seinen Namen nicht erwähnt hatte, wusste Maura, dass Rizzoli ebenso wie sie an Daniel Brophy dachte. Das Unmögliche, das Unerreichbare in Person. Ein verführerisches Trugbild, das sie über Jahre hinweg locken konnte, über Jahrzehnte, bis sie eine alte Frau war. Alt, einsam und verlassen.
»Hier ist die Abzweigung«, sagte Rizzoli und bog in den Loring Drive ein.
Mauras Herz begann zu hämmern, als sie das Schild mit der Aufschrift JUSTIZVOLLZUGSANSTALT FRAMINGHAM erblickte. Die Zeit ist gekommen, meinem wahren Ich ins Auge zu sehen.
»Sie können es sich immer noch anders überlegen«, sagte Rizzoli.
»Das haben wir doch schon mal durchgekaut.«
»Ja, schon klar. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir jederzeit umkehren können.«
»Würden Sie das tun, Jane? Nachdem Sie sich ein Leben lang gefragt haben, wer Ihre Mutter ist, wie sie aussieht,
würden Sie es dabei bewenden lassen? Wenn Sie so kurz davor stünden, die Antworten auf sämtliche Fragen zu bekommen, die Sie sich je gestellt haben?«
Rizzoli blickte sich zu ihr um. Rizzoli, die ständig auf Achse zu sein schien, die immer im Auge irgendeines Sturms zu stehen schien, blickte Maura nun ruhig und voller Verständnis an. »Nein«, sagte sie. »Das würde ich auch nicht tun.«
Im Verwaltungstrakt des Betty Smith Cole Building zeigten sie beide ihre Ausweise vor und trugen sich in die Besucherliste ein. Wenige Minuten später holte Superintendent Barbara Gurley, die Direktorin, sie am Empfang ab. Maura hatte eine Achtung gebietende Gefängniskommandantin erwartet, doch die Frau, die sie nun vor sich sah, glich eher einer Bibliothekarin. Ihr kurzes Haar war schon mehr grau als braun, sie war zierlich gebaut, trug einen hellbraunen Rock und eine rosa Baumwollbluse.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Detective Rizzoli«, sagte Gurley. Sie wandte sich an Maura. »Und Sie sind Dr. Isles?«
»Ja. Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.« Maura gab ihr die Hand. Den Händedruck der Direktorin empfand sie als kühl und reserviert. Sie weiß, wer ich bin, dachte Maura. Sie weiß, warum ich hier bin.
»Gehen wir nach oben in mein Büro. Ich habe ihre Akte für Sie herausgesucht.«
Gurley ging mit festem, entschlossenem Schritt voran. Keine überflüssige Bewegung, kein Blick über die Schulter, um zu sehen, ob die Besucherinnen ihr folgen konnten. Sie betraten einen Aufzug.
»Das hier ist eine Stufe-Vier-Einrichtung, nicht wahr?«, sagte Rizzoli.
»Ja.«
»Das ist doch nur eine mittlere Sicherheitsstufe?«, fragte Maura.
»Wir richten zurzeit versuchsweise einen Stufe-Sechs-Trakt ein. Das hier ist die einzige Vollzugsanstalt für Frauen im Staat Massachusetts; außer uns gibt es im Moment weit und breit nichts. Wir sind also für das gesamte Spektrum von Straftaten zuständig.«
»Einschließlich Massenmord?«, fragte Rizzoli.
»Wenn die Taten von einer Frau begangen wurden und diese Frau verurteilt wird, dann kommt sie hierher. Wir haben nicht ganz dieselben Sicherheitsprobleme, mit denen Anstalten für männliche Täter zu kämpfen haben. Und unser Ansatz ist auch ein wenig anders. Wir legen mehr Gewicht auf Behandlung und Resozialisierung. Einige unserer Insassinnen leiden unter psychischen Problemen und Drogenabhängigkeit. Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, dass viele von ihnen Mütter sind; wir haben es also mit all den emotionalen Folgen der Trennung von Mutter und Kind zu tun. Wenn die Besuchszeit zu Ende ist, bleiben jedes Mal viele weinende Kinder zurück.«
»Und was ist mit Amalthea Lank? Haben Sie besondere Probleme mit ihr?«
»Wir haben …« Gurley zögerte, den Blick starr geradeaus gerichtet. »Ein paar.«
»Welcher Art?«
Die Fahrstuhltür ging auf, und Gurley trat hinaus. »Das ist mein Büro.«
Sie durchquerten einen Vorraum. Die beiden Sekretärinnen sahen Maura mit großen Augen an, dann senkten sie rasch den Blick und starrten wieder auf ihre Computerbildschirme. Alle vermeiden es, mir in die Augen zu
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