Schwesternmord
fühlst. Sie ist nur die Mittlerin, diejenige, die dich mit dem wahren Objekt deiner Begierde zusammenbringen kann.
»Ein Partner«, sagte Maura.
»Wir wissen nicht, wer er ist oder wie er aussieht. Aber Ihre Mutter weiß es.«
»Und warum verrät sie dann nicht seinen Namen?«
»Das ist die Frage – warum versteckt sie ihn? Hat sie vielleicht Angst vor ihm? Oder will sie ihn beschützen?«
»Sie wissen doch gar nicht, ob diese Person wirklich existiert. Sie haben nichts als ein paar unidentifizierte Fingerabdrücke. Und eine Theorie.«
»Mehr als eine Theorie. Die Bestie ist eine Realität.« O’Donnell beugte sich wieder vor und sagte in leisem, fast vertraulichem Ton: »Das ist der Name, den sie benutzt hat, als sie in Virginia verhaftet wurde. Als die Polizei dort sie verhörte. Sie sagte wörtlich: ›Die Bestie hat mir befohlen, es zu tun.‹ Ende des Zitats. Er hat ihr befohlen, diese Frauen zu töten.«
In der Stille, die nun folgte, hörte Maura ihr eigenes Herz schlagen wie einen immer schneller werdenden Trommelwirbel. Sie schluckte. »Wir reden hier von einer Schizophrenen«, sagte sie schließlich. »Von einer Frau, die vermutlich auditorische Halluzinationen hat.«
»Oder aber sie spricht von einer realen Person.«
»Die Bestie ?« Maura rang sich ein Lachen ab. »Ein persönlicher Dämon vielleicht. Ein Monster aus ihren Albträumen.«
»Ein Monster, das Fingerabdrücke hinterlässt.«
»Die Geschworenen hat das offensichtlich nicht beeindruckt.«
»Sie haben die Beweise ignoriert. Ich war bei dem Prozess dabei. Ich habe zugesehen, wie die Staatsanwaltschaft ihre Beweise gegen eine Frau zusammengetragen hat, die so eindeutig psychotisch war, dass selbst der Anklage klar sein musste, dass sie für ihre Taten nicht verantwortlich war. Aber sie war eine leichte Beute; es war ein Kinderspiel, eine Verurteilung zu erreichen.«
»Obwohl sie offensichtlich geistesgestört war.«
»Oh, niemand hat bezweifelt, dass sie psychotisch war und Stimmen hörte. Und wenn die Stimmen noch so laut auf Sie einschreien, dass Sie der Frau dort den Schädel einschlagen sollen, dass Sie ihre Leiche verbrennen sollen, dann gehen die Geschworenen immer noch davon aus, dass Sie zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Amalthea war ein gefundenes Fressen für die Anklage, und sie hat zugeschlagen. Und dabei die Falsche erwischt. Denn er ist ihr durch die Lappen gegangen.« O’Donnell lehnte sich
in ihrem Sessel zurück. »Und Ihre Mutter ist der einzige Mensch, der weiß, wo er zu finden ist.«
Es war schon fast sechs, als Maura auf den Parkplatz hinter dem Gebäude der Rechtsmedizin fuhr. Zwei andere Autos standen noch dort – Yoshimas blauer Honda und Dr. Costas’ schwarzer Saab. Es ist wohl noch eine außerplanmäßige Autopsie reingekommen, dachte sie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Heute hätte sie eigentlich Bereitschaftsdienst gehabt, doch sie hatte ihre Kollegen gebeten, für sie einzuspringen.
Sie sperrte die Hintertür auf, betrat das Gebäude und ging direkt in ihr Büro, ohne unterwegs irgendjemandem zu begegnen. Auf ihrem Schreibtisch fand sie das, weswegen sie gekommen war: zwei Aktenordner, versehen mit einem gelben Haftzettel, auf den Louise geschrieben hatte: Hier sind die gewünschten Akten. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, holte tief Luft und schlug den ersten Ordner auf.
Es war die Akte von Theresa Wells, der älteren Schwester. Auf dem Deckblatt waren der Name des Opfers, die Fallnummer sowie das Datum der Autopsie vermerkt. Der Name des Pathologen, Dr. James Hobart, war ihr unbekannt, aber sie arbeitete ja auch erst seit zwei Jahren in diesem Institut, und der Autopsiebericht, der vor ihr lag, war fünf Jahre alt. Sie blätterte weiter zu dem von Dr. Hobart diktierten Bericht.
Bei der Verstorbenen handelt es sich um eine normal genährte weibliche Person von äußerlich unbestimmbarem Alter, Größe ein Meter fünfundsechzig, Gewicht zweiundfünfzig Kilogramm. Eindeutige Identifizierung erfolgte durch Röntgenaufnahmen des Gebisses; Abnehmen von Fingerabdrücken nicht möglich. Ausgedehnte Verbrennungen an Rumpf und Extremitäten mit schweren Verkohlungen der Haut und Freilegung des Muskelgewebes. Gesicht und Brust etwas weniger stark betroffen. Reste von Kleidung noch vorhanden, im Einzelnen: eine Gap-Jeans, Größe
38, Reißverschluss und Druckknöpfe geschlossen, ebenso ein angekohlter weißer Pullover und ein BH, Häkchen ebenfalls geschlossen.
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