Schwesternmord
hat er wahrscheinlich die Panik gekriegt.«
»Es ist ein Junge? Wer?«
»Ich werde ihn nicht auch noch in Schwierigkeiten bringen!«
»Wer ist dieser Junge?«
»Lass das, Dad. Bitte, lass das. «
»Du bleibst jetzt hier und stehst mir Rede und Antwort. Katie, geh nicht nach oben …«
Schwere Schritte stapften die Stufen hoch und brachen dann plötzlich ab. Katie stand auf der Treppe und sah Maura mit großen Augen an.
»Komm sofort wieder runter!«, schrie Rick.
»Alles klar, Dad«, murmelte Katie, ohne den Blick von Maura zu wenden. »Jetzt versteh ich, warum du die Kette vorgelegt hast.«
»Katie!« Rick brach ab, als das Telefon zu läuten begann. Er ging hin und nahm den Hörer ab. »Hallo? Ja, hier spricht Rick Ballard. Alles okay hier. Nein, Sie müssen niemanden herschicken. Meine Tochter ist nach Hause gekommen und hat die Alarmanlage nicht rechtzeitig abgeschaltet …«
Das Mädchen starrte Maura noch immer mit unverhohlener Feindseligkeit an. »Sie sind also seine neue Freundin.«
»Bitte reg dich nicht auf, das ist wirklich nicht nötig«, sagte Maura ruhig. »Ich bin nicht seine Freundin. Ich brauchte nur ein Bett für die Nacht.«
»Ach ja? Und warum schlafen Sie dann nicht bei meinem Dad?«
»Katie, das ist die Wahrheit …«
»In dieser Familie sagt keiner je die Wahrheit.«
Unten läutete das Telefon erneut. Wieder hob Rick ab. »Carmen. Carmen, beruhige dich! Katie ist hier bei mir. Ja, es geht ihr gut. Irgendein Junge hat sie hergefahren, weil sie ihren Rucksack vergessen hatte …«
Das Mädchen schleuderte Maura einen letzten giftigen Blick zu und ging die Treppe hinunter.
»Deine Mutter ist am Telefon«, sagte Rick.
»Willst du ihr nicht von deiner neuen Freundin erzählen? Wie kannst du ihr das bloß antun , Dad?«
»Darüber werden wir noch reden müssen. Du musst einfach die Tatsache akzeptieren, dass deine Mutter und ich nicht mehr zusammen sind. Die Situation hat sich nun mal verändert.«
Maura ging wieder ins Zimmer und schloss die Tür. Während sie sich anzog, konnte sie hören, wie die beiden sich unten weiter stritten – Ricks Stimme ruhig und fest, die des Mädchens schrill vor Zorn. Maura brauchte nur ein paar Sekunden, um in ihre Kleider zu schlüpfen. Als sie nach unten ging, fand sie Ballard und seine Tochter im Wohnzimmer. Katie hatte sich auf dem Sofa zusammengerollt wie ein missgelaunter Igel.
»Rick, ich gehe jetzt«, sagte Maura.
Er sprang auf. »Das dürfen Sie nicht.«
»Nein, das ist schon okay. Sie brauchen jetzt Zeit für Ihre Familie.«
»Sie können nicht nach Hause fahren, das ist viel zu gefährlich.«
»Ich fahre nicht nach Hause. Ich nehme mir ein Hotelzimmer. Bitte, machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
»Maura, warten Sie …«
»Sie will gehen, okay ?«, fauchte Katie. »Also lass sie schon gehen.«
»Ich rufe Sie an, wenn ich im Hotel bin«, sagte Maura.
Als sie aus der Garage herausfuhr, kam Rick aus dem Haus und blieb in der Einfahrt stehen. Ihre Blicke trafen sich durch das Autofenster, und er kam auf sie zu, als wollte er noch einmal versuchen, sie zum Bleiben zu bewegen, zur Rückkehr in die Sicherheit seines Hauses.
Wieder erhellte ein Scheinwerferpaar die Straße. Carmens Wagen hielt am Straßenrand, und sie stieg aus; das blonde Haar wild zerzaust, in einen Bademantel gehüllt, unter dem der Saum des Nachthemds hervorlugte. Auch sie aus dem Bett gerissen von diesem ungehorsamen Teenager, wie der Vater. Carmen warf Maura einen bösen Blick zu, sagte ein paar Worte zu Ballard und ging ins Haus. Durch das Wohnzimmerfenster konnte Maura sehen, wie Mutter und Tochter sich umarmten.
Ballard blieb immer noch in der Einfahrt stehen. Er blickte zum Haus, dann wieder zu Maura, offensichtlich hin- und hergerissen.
Sie nahm ihm die Entscheidung ab. Legte den Gang ein, trat aufs Gaspedal und fuhr davon. Das Letzte, was sie von ihm im Rückspiegel sah, war, wie er sich abwandte und ins Haus ging. Zurück zu seiner Familie. Auch eine Scheidung, dachte sie, kann die Bande nicht zerreißen, die in Jahren der Ehe geschmiedet wurden. Lange nachdem die Papiere unterzeichnet sind, nachdem das Scheidungsurteil rechtskräftig geworden ist, bleiben diese Bande bestehen. Und die stärksten
Bande sind die des Blutes, die Eltern mit ihrem Kind verknüpfen.
Sie atmete tief durch. Und spürte, wie die Versuchung plötzlich von ihr abfiel. Sie war frei.
Wie sie es Ballard versprochen hatte, fuhr sie nicht nach Hause, sondern auf der Route 95
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