Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
Vom Netzwerk:
gegangen? Wir warten auf dich!», rief Vater.
    Ich brachte das Buch mit zum Tisch und setzte mich auf meinen Platz. In der Zwischenzeit hatte Luanne schon die Teller abgeräumt, um Platz für den Nachtisch zu schaffen. Sie war eine schüchterne, nette Frau mit walnussfarbener Haut, die in Gegenwart meiner Eltern mit gedämpfter, zurückhaltender Stimme sprach. Gingen meine Eltern aus dem Haus, war sie wie ausgewechselt.
    Â«Bitte, sing noch mal das Lied mit der Brücke», sagte ich zu ihr, wenn ich sie beim Abstauben einer Lampe im Wohnzimmer antraf. Ich setzte mich dann aufs Sofa und zog die Knie bis unters Kinn, was heißen sollte, dass ich es ernst meinte. Bitte? Sie hatte einen Staubwedel in der Hand. Mir prickelte die Nase vom Geruch des Zitronen-Putzmittels. Davon öffneten sich die Schleusen in meinem Gehirn.
    Sie schaute zum Erkerfenster hinaus und riss den Mund auf zu einem
«O – Oh, Lord, show me that bridge. I’m standing at the water, and I can’t see that bridge».
Es wunderte mich, dass ihre Stimme beim Reden nur ein Flüstern war, wenn sie aber sang, klar und durchdringend klang wie eine Oboe. An ihren freien Sonntagen trugLuanne weiße Kreolenohrringe, lilafarbenen Lippenstift und ein um die Brust herum eng anliegendes blaues Kleid mit dazu passendem Hut. Sie ging bis zum Ende unserer Straße. Ein dunkelhäutiger Mann holte sie in einem Dodge Dart ab, und am Abend darauf, wenn ich schon schlief, brachte er sie zurück.
    Â«Wir möchten jetzt zu Nachtisch und Kaffee übergehen», sagte Mutter zu Luanne. Wann immer Mutter mit
der Hilfe
sprach, wie sie sie nannte, straffte sie die Schultern. Luanne nickte und eilte in die Küche.
    Â«Hamlet ist voller Mehrdeutigkeiten», erklärte Vater, als er das Buch aufschlug und sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. «Ich übernehme die Eröffnungsszene.» Er holte tief Luft, und schon donnerte die erste Zeile über den Tisch:
«Wer da?»
    Â«Leonard, schrei nicht so», sagte Mutter und tippte sich auf die Ohren.
    Â«Gut, dann lies du», sagte er höchst beleidigt. Er schob mir das Buch zu, und ich reichte es Mutter.
    Â«Ich möchte Ophelia lesen.» Sie blätterte die dünnen Seiten um und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das Geschriebene.
«Könnte Schönheit wohl besseren Umgang haben als mit der Tugend?»
«Umgang» und «Tugend» betonte sie übertrieben stark, als ob sich ihr Mund vor Schmerzen verzog oder an etwas Unsichtbarem festgebunden war.
    Â«Ophelia faucht nicht so, Irene. Lies es noch mal.»
    Â«Ich habe nicht gefaucht.
Könnte Schönheit wohl …»
    Luanne stieß die Schwingtür auf und stellte eine Schüssel Haferflocken-Cookies in die Mitte des Tischs.
    Â«Kaffee?», fragte Mutter und drehte sich zu ihr um.
    Â«Sofort, Ma’am.»
    Â«Ich dachte, wir essen zuerst den Nachtisch», sagte Elliot. Mein jüngster Bruder griff nach einer Handvoll Cookies, aber Mutter stoppte ihn.
    Â«Liebling, nimm erst mal nur einen», sagte Mutter.
    Elliot sah aus wie Onkel Max, ein weicher Bauch und ein breites Gesicht; er war das Nesthäkchen, aber vielleicht der Klügste von uns allen, der seine tiefsten Gedanken für sich behielt und Aktivitäten im Sitzen bevorzugte. Durch seine langsame Art zu sprechen, wirkte er meist absolut verträumt.
    Â«Okay», sagte er.
    Â«Ich lese Oh-viel-ja», sagte Robert. Er sprach mit einer Quietschstimme.
    Â«Oh-feh-lia!», korrigierte Vater ihn. «Sprich mir nach.»
    Â«Ich fühl ja», sagte Peter im Spaß und griff mit den langen, geschickten Fingern nach einem Cookie. Er war blass und hatte dünne Haare, genau wie ich. Mit siebzehn war er der Älteste und ließ sich auf den Stuhl sinken, schlaksig – nicht viel mehr als Arme und Beine, über der Oberlippe der Schatten eines Schnurrbarts.
    Vater schlug mit der Faust auf den Tisch. «Schluss damit!» Der Sturm, der immer unter seiner Haut brodelte, brauste auf und färbte sein Gesicht rot.
    Bis auf die Schwingtür herrschte völlige Stille. Luanne kam mit zwei Tassen Kaffee herein.
    Â«Mädchen, bring den Kaffee hierher.» Vater fischte eine Zigarette aus seiner Hemdtasche und funktionierte die Untertasse zu einem Aschenbecher um.
    Â«Sprich nicht so mit ihr», wollte ich ihn anschreien,aber die Wörter blieben unausgesprochen in meinem Kopf

Weitere Kostenlose Bücher