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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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kann?»,
hieß es in der Übersetzung.
«Was nützt mir die liebliche Luft, wenn nur ich allein sie atmen kann?»
    Während Justines Gesang in dieser Fraglichkeit verharrte, sie trällerte und vibrierte und die Stimme noch einmal höher kletterte, zählte ich vierzehn Sitzreihen aus Holz.
    Â«Wo bleibt sie?», flüsterte ich Peter zu.
    Er erhob sich von seinem Platz und schlüpfte zur Tür hinaus. Ich folgte ihm.
    Der große marmorne Flur war bis auf zwei Kartenabreißerinnen vor dem Haupteingang der Jordan Hall leer. Dort traten gerade die Wiener Sängerknaben auf.
    Â«Haben Sie eine Frau in einem Mohairmantel gesehen?», fragte Peter eine junge Frau mit dünnen Haaren und Sommersprossen.
    Â«Sie ist unsere Mutter», sagte ich.
    Die Frau zuckte mit den Schultern. «Hier kommen viele Leute vorbei. Wo sollte sie euch denn treffen?»
    Â«Sie parkt gerade das Auto», sagte ich.
    Peter deutete nach links zum kleinen Konzertsaal. «Wenn Sie sie sehen, sagen Sie ihr bitte, sie soll da reingehen.»
    Die Frau nickte.
    Â«Sie ist sehr hübsch. Sie hat blonde Haare», fügte ich noch hinzu.
    Wir liefen die Foyertreppe hinunter und schauten draußen nach. Die Schneeflocken überzogen die Straße mit einer Kruste, der tief hängende Himmel senkte sich auf uns herab.
    Â«Hat sie sich verfahren?» Die Glastür beschlug von meinem Atem.
    Â«Könnte sein.»
    Wir warteten zusammen und starrten auf die schneebedeckte Straße, wo sich die am Rand geparkten Autos in weiße Kapseln verwandelten.
    Peter schaute auf seine Uhr. «Die Straßen sind glatt», sagte er mit einer Stimme, so leise wie Schnee.
    Wir gingen die Treppen wieder hinauf und stelltenuns in die Nähe der Kartenabreißerinnen, unsicher, was wir jetzt tun sollten.
    Â«Isaac Stern spielt in der Symphony Hall. Heute ist viel los», bot uns die junge Frau als Erklärung für das Parkplatzproblem an.
    Â«Komm, wir gehen wieder rein», sagte ich. Vielleicht war Mutter durch einen der Seiteneingänge gekommen.
    Zurück im Konzertsaal klatschte das Publikum gerade Beifall. Justine verließ die Bühne. Das Pausenlicht ging an. Ich wollte mit Mrs Janson sprechen. Vielleicht fiel ihr etwas ein. Sobald sich Mrs Janson umdrehte, ging ich zu ihr hin.
    Â«Immer noch nicht da?», fragte sie und sah selbst ein wenig besorgt aus. «Man sagt, es soll heute unmöglich sein, einen Parkplatz zu finden.»
    Â«Es schneit», sagte ich. Ich blickte zu Peter hinüber, der an der Tür stand. Er gab mir ein Zeichen.
    Â«Komm, wir gehen noch mal zum Haupteingang», sagte er.
    Wir liefen erneut den marmornen Korridor entlang, an Türen vorüber, die ich diesmal auch wahrnahm. Auf manchen prangten vergoldete Ziffern, auf anderen nicht. Als wir wieder das Foyer erreichten, stießen wir auf Besucher des Konzerts der Wiener Sängerknaben, die den Saal in der Pause verlassen hatten. Sie rauchten wie besessen. Als die Türen zum Hauptkonzertsaal geöffnet wurden, gaben sie den Blick auf Orgelpfeifen über der Bühne von der Größe einer Kathedrale und auf ein in Gold gefasstes Gitter frei. Der Saal war wunderschön, mit seinen Holzschnitzereien und plüschigen grünen Stuhlreihen.
    Da drinnen ging es fröhlich zu, das Gegenteil dessen, was ich fühlte; in meinem Bauch braute sich ein Sturm zusammen.
    Â«Ich rufe Dad an», sagte Peter unwirsch.
    Im Foyer entdeckte er eine Telefonkabine. Ich lehnte mich an die Glastür, als er unsere Telefonnummer eingab.
    Â«Es nimmt keiner ab», sagte er und knallte den Hörer auf die Metallgabel. «Gehen wir raus.»
    Wir liefen ohne unsere Jacken einen Häuserblock in Richtung Boylston Street runter. Die Lichter der Stadt blinkten rot, weiß und grün, gleichmütig gegenüber meinen vor Kälte steif werdenden Fingern. Peter überraschte mich, als er sich eine Zigarette anzündete.
    Â«Ich überlege, ob ich die Polizei anrufe.» Er nahm kurze, hastige Züge.
    Â«Was glaubst du, wo Dad ist?»
    Â«Keine Ahnung», sagte er und trat die Zigarette aus.
    Â«Wo kann sie nur sein?» Mir war eiskalt, ich hatte Angst, auf meinem Kopf lag ein Zierdeckchen aus Eis. Ich schaute rüber zur Symphony Hall, die von einer Girlande zwiebelgroßer Lichter beleuchtet wurde. Das Gebäude strahlte Sicherheit aus, unbeirrt von den wüsten Straßen ringsherum.
    Als wir ins Foyer

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