Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
Vom Netzwerk:
freundlich.»
    Für Justines Konzert zog Mutter einen Hosenanzug aus aquamarinfarbener Mohairwolle an, der zu ihren kurzen blonden Haaren umwerfend aussah. Das Jackett roch nach Plastikfolie und bittersüß nach Trockenreinigung. Peter warf sich zu den Schlaghosen – dem Paar, das er nie wusch, weshalb Mutter wie üblich das Gesicht verzog – die Armeejacke über, anders wäre er aber auch nicht mitgekommen. Ich trug eine Tweedhose und einen dunkelblauen Blazer mit Silberknöpfen so groß wie Radioknöpfe. Mutter sah mich zustimmend an, was für mich eine wichtige Rolle spielte.
    Dora war wieder da, aber sonntags hatte sie frei, also blieb Vater bei Elliot und Robert. Eigentlich wäre Peter gefahren, aber er hatte seinen Fuß, der mit elastischen Bandagen umwickelt war, erneut verletzt, als bei seinem Gitarrensolo, das von einer Rolling-Stones-Nummer inspiriert war, von der Schulbühne gesprungen war. Ich saß hinten im Cadillac und beobachtete ganz genau, wie Mutter fuhr. Peter saß auf dem Beifahrersitz.
    Seit sie ihren Thunderbird fast komplett im Lake Goosenack versenkt hatte, vermied sie es gänzlich, im Dunkeln zu fahren. Aber heute machte sie eine Ausnahme. Sie wollte diese Gelegenheit auf keinen Fall verpassen, so als könnte Justines Genialität auf uns alle überspringen.
    Â«Justine ist ein wahres Ausnahmetalent», sagte Mutter und packte das Lenkrad fest mit beiden Händen. «Sie hat genau gewusst, was sie wollte, und dann ihr Ziel verfolgt. Und genau das braucht man. Beverly hat mir erzählt,dass Justine in der ersten Klasse die Nationalhymne gesungen hat, vor der ganzen Schule. Ist das nicht beeindruckend?» Mutter schaltete in ein höheres, emotionaleres Stimmregister. Als wir nicht darauf reagierten, sagte sie noch einmal, «ist das nicht beeindruckend?», als wären Peter und ich längst auf dem besten Weg in die Anonymität.
    Ich malte Kreise auf die Fensterscheibe, überzeugt, der Welt auch etwas Wichtiges bieten zu können, genau wie Justine, nur dass ich noch nicht genau wusste, was. Peter und ich sangen, aber keine Opern. Ich wollte mich in gefühlvolle Folk-Harmonien hüllen, nicht in Satinroben. Laura Nyro. Joni Mitchell – diese Art von Sängerinnen. Peter spielte E-Gitarre. Aber für Mutter zählte das alles nicht. Für sie, die von ihrem sechsten Lebensjahr an eine klassische Violinenausbildung durchlaufen hatte, waren unsere moderneren Musikformen minderwertig.
    Als sie vom Highway ab und in die Stadt hineinfuhr, bremste oder beschleunigte sie beim geringsten Anlass – mal war es ein Auto, das uns rechts überholte, mal ein Mensch, der am Fußgängerüberweg stand. Außerdem engte der vom letzten Sturm liegengebliebene Schnee die Fahrspur ein. Der Februarhimmel bescherte uns eine frühe Dunkelheit. Dann fing es leicht an zu schneien.
    Â«Du bremst zu scharf», sagte Peter. Er sah elend aus da vorn. Hellbraune Strähnen hingen ihm in die Augen, als wollten sie ihm den illusionslosen Blick auf das künftige Leben ersparen. Die fremden Menschen auf den Bürgersteigen sahen gehetzt aus und waren bemüht, vor Ladenschluss noch schnell ihre Einkäufe zu erledigen.
    Â«Ich kann nicht anders.» Sie nahm einen langen, tiefenZug von ihrer Zigarette und hinterließ einen pinkfarbenen Abdruck am Filter. Wir sagten nichts mehr. Zu oft hatte ich diesen Satz schon aus ihrem Mund gehört, trotzdem breitete er sich im Wagen aus wie ihr Zigarettenqualm, der an das Autodach stieß und uns niederdrückte.
    Schließlich sagte Mutter: «Beverly hat mir außerdem erzählt, dass sie täglich vier Stunden übt, aber das ist die Voraussetzung, wenn man Großes erreichen will.» Sie beugte sich zur Windschutzscheibe vor. «Auf dem Weg dorthin gibt es keine Abkürzungen.»
    Â«Hast du früher auch so viel geübt?» Ich fragte, weil ich es ganz einfach nicht wusste. Sie sprach selten über ihre musikalische Vergangenheit, über die Zeit, als sie Violine gespielt hatte.
    Â«Ja, vor einer halben Ewigkeit», sagte sie seufzend.
    ~~~~~~~~~~~
    Wir saßen noch immer im Auto, und sie griff wieder nach ihrer Zigarette, Mittelfinger und Daumen waren so verkrüppelt, dass man beim Anblick zusammenzuckte. Vor diesem Ausflug hatte sie zusätzlich Tabletten genommen, weil ihre Fingergelenke puckerten wie ein Herz, dem die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wurde,

Weitere Kostenlose Bücher