Schwimmen in der Nacht
nickte.
Das Kommen und Gehen der Trauergäste sorgte für die verschiedensten Geräusche im Haus. Es klingelte an der Haustür. Das Telefon läutete. Unter uns lief wieder eine Gruppe von Leuten durch die groÃen Zimmer meiner Tante. Zigarettenrauch, abgestandener Kaffee, Bonbons mit Kirschfüllung, Rührkuchen, auf einen Haufen geworfene feuchte Wintermäntel. Ich hätte die ganze Nacht so aus dem Fenster gebeugt dastehen und in Erwartung des Mondes in den Himmel starren können. Aber der Nebel nahm mir die Sicht. Durch die dichte Wolkendecke konnte ich keinen einzigen Stern sehen.
«Ich wünschte, wir könnten heute Abend nach Hause gehen», sagte ich.
«Ich nicht», sagte Peter. «Das wird die Hölle, wenn es so weit ist.»
«Das hier ist doch auch schon die Hölle.»
Ich hatte es satt, diesen Hochglanzstimmen fremder Leute im Erdgeschoss zuzuhören.
«Liebling, wie geht es dir? Ich bin Margie, die Cousine deiner Mutter», sagte eine Frau mit Perlenohrringen und einem schwarzen frisbeegroÃen Hut zu mir. Sie beugte sich zu mir hinunter und starrte mich an, als lägen meine Augen in der Auslage eines Juweliers. Dann berührte sie mich am Arm, um sich die Ware weiter anzusehen.
«Vater ist im anderen Zimmer», sagte ich und machte einen Bogen um sie.
Als ich nach unten kam, erblickte ich unsere Nachbarin Mrs Fineburg in demselben schwarzen Mantel wie an dem Tag, als wir das Laub verbrannt hatten. «Pass auf dich auf, Sarah. Pass auf dich auf», sagte sie und nippte an einer Tasse Kaffee. Ich war nicht sicher, ob ich das konnte. Aufpassen? Auf mich? Vielleicht auch auf meine Brüder? Neben ihr stand schweigend Mickey, verschüchtert wie ein kleiner, verlorener Junge. Wir waren noch im Kindergarten gewesen, als er einmal seinen Penis rausgeholt und mir gezeigt hatte, wie sein Urinstrahl in einem eleganten Bogen über unsere Einfahrt schoss. Erinnerungen aus einem anderen Leben. Auf Beerdigungen denkt man an solche Situationen, sagt aber nichts. Welche Bedeutung hatte das jetzt noch? «Nehmen Sie sich etwas zu essen, Mrs Fineburg, wir haben viel zu viel davon.» Ich zeigte auf das Buffet mit den Aufläufen, bevor ich weiterging.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich morgens in das Klassenzimmer für die Anwesenheitskontrolle kam, ein völlig anderer Mensch. Ein Mensch ohne eine Mutter. Margaret würde mich vielleicht auf die Mädchentoilette locken, um herauszufinden, was vorgefallen war. Was sollte ich ihr sagen? Ich hatte keine Ahnung, wie Sophie reagieren würde oder die Lehrer. Ich stellte mir vor, wie Anthony auf mich zukam, mich zum Klassenzimmer brachte und seinen Arm um meine Taille legte, als würde ich zu ihm gehören.
«Glaubst du, dass es irgendwer in der Schule wei�», fragte ich und drehte mich um.
«Die ganze verdammte Stadt weià Bescheid. Der gesamte
Bundesstaat.»
Ich hörte jemanden die Treppe hochkommen.
Es war Kenneth. Er blickte ins Zimmer, als hätte er erwartet, jemand anderen anzutreffen, und als das nicht der Fall war, kam er herein und machte die Tür zu.
«Was für eine beknackte Zirkusveranstaltung», sagte er. Er pellte sich aus dem schwarzen Anzugsjackett und lockerte den Schlips um seinen Hemdkragen. Er war wirklich ein Riese, sein Kopf berührte fast das Deckenlicht. Das Zimmer schien wie ausgewechselt, seit er eingetreten war. «Ich habe noch nie einen solchen Haufen Schwachköpfe erlebt, ihr vielleicht?»
Ich hatte Kenneth schon immer gemocht, aber in diesem Augenblick liebte ich ihn ganz und gar. Ich verlieà das Fenster und setzte mich aufs Bett, um ihm näher zu sein. Er war einer der wenigen Menschen, die ehrlich sagten, was sie dachten, und für ihn war das ganz natürlich. Andere fanden sein Verhalten unhöflich, das ganze Gegenteil von seinem Bruder Edward. Mutter hatte irgendwann mal gesagt, dass es schön wäre, wenn man ihn noch etwas schleifen könnte. Sie dachte, er würde die Dinge nur sagen, um zu provozieren.
«Ich habe wirklich keine Ahnung, was er damit bezweckt», hatte sie ein paar Tage nach einem der gemeinsamen Sederabende gesagt.
Aber ich konnte sehen, dass er einfach nicht die Geduld hatte, um sich an gute Manieren zu halten. Das bestätigte meine Beobachtung, dass gutes Benehmen reichlich Möglichkeit bot, sich zu verstellen und zu lügen. Das Theater da unten war das beste Beispiel
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