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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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silbergraues Haar stand vom Kopf ab, als wäre es steifgefroren.
    Â«Du bist die Älteste, richtig?»
    Â«Das einzige Mädchen.»
    Um ihre Ohrläppchen kringelten sich Löckchen. Den Pony hatte sie genau über den mit Kajal nachgezogenen Augenbrauen gestutzt, übertrieben geschwungene Bögen, die ihr, auch wenn sie schwieg, einen Ausdruck ständigen Überraschtseins verliehen.
    Â«Und dein Vater, ist der auch da?»
    Â«Ja.»
    Sie lächelte wieder. Ihre großen, spitz zulaufenden Brüste ärgerten mich. Sie platzten fast aus der weißen Baumwollbluse. Sie trug eine schwarze Caprihose, die sie breithüftig machte. Ich wollte mich vor ihr aufbauen, damit sie keinen guten Blick auf unser Haus bekam, aber das stellte sich als schwierig heraus. Automatisch und eiskalt fotografierten ihre Augen ihre potenzielle Immobilie. Ich sah, wie sie im Geist auf den Auslöser drückte.
    Â«Schönes Haus», sagte sie.
    Â«Danke. Warten Sie bitte einen Augenblick.»
    Â«Schön, dich kennenzulernen», sagte sie überschwänglich, als ich mich abwandte, als wäre sie die Party und wollte sichergehen, dass ich auch wusste, wie toll man es mit ihr hatte.
    Ich ging nach oben, um Vater zu holen, der mit Robert redete. Sie hatten sich wegen der Fische versöhnt, und jetzt stattete Vater Roberts Goldfischen jeden Tag einen Besuch ab. Ich ging wieder ins Wohnzimmer. Ich wollte kein Wort von dem verpassen, was Mrs Gore zu sagen haben mochte.
    Sie war zierlich, aber ich spürte die Macht ihres Urteils,als sie den Flur, Wohn- und Esszimmer taxierte. Sie schob sich an das Klavier heran. «Wird das mitverkauft?»
    Â«Nein», sagte ich.
    Vater sah mich an.
    Â«Nein», sagte ich.
    Â«Wird es nicht.»
    Mrs Gore blieb wieder stehen. Hatte sie die abgewetzte Stelle im Läufer unten an der Treppe bemerkt? Hatte sie die Stelle neben der Kammer an der Haustür gesehen, wo der Putz abblätterte? Witterte sie unsere fehlende Mutter, die schale Luft, die chronische Vergessenheit, in die das Haus geraten war? Vater lief ihr nach. Von der aufgesetzten Fröhlichkeit in ihrer Stimme bekam ich Kopfschmerzen. Wem machte sie hier eigentlich etwas vor?
    Mrs Gore ging ins Wohnzimmer zurück, sah, wie ich sie anstarrte, und lächelte automatisch. Sie kniff die Augen zusammen, als sie durch den Raum ging und das Mobiliar musterte. Sie nickte, und sie gingen weiter.
    Â«Ist
irgend etwas
bei der Transaktion inklusive – Deckenlampen? Größere Möbelstücke? Die Esszimmergarnitur beispielsweise?»
    Vater schüttelte den Kopf. «Das weiß ich nicht.»
    Â«Wir verkaufen keine Möbel», sagte ich.
    Sie sah mich an, und diesmal schenkte sie mir ein verkniffenes Lächeln.
    Â«Verstehe. Es ist schrecklich unangenehm, nicht wahr? So ein Umzug und das ganze Drum und Dran?»
    Sie verschwanden nach oben. Ich hörte, wie sie in jedem Zimmer stehen blieben, auch in meinem, und dann wieder in den Flur gingen. Ich versteckte unser Familiensilber im Schrank.
    Sie mussten direkt über mir stehen geblieben sein. Ich hörte Vaters Stimme. Wieder Schritte, als sie in Mutters Zimmer umhergingen, um das übergroße Bett herum, in Mutters Ankleidezimmer. Ob sie die Schranktüren öffnete? Ich konnte es nicht hören.
    Â«Elliot!», rief Vater zum Dachboden hoch.
    Die Schritte kamen jetzt aus dem zweiten Stock. Mrs Gores Stimme übertönte Vaters, und sie verschwanden ganz oben im Haus. Draußen erhob sich eine Brise. Im
Wizard of Oz
wird Dorothys Haus in die Ferne gewirbelt. Ich hielt mich an der Armlehne einer imaginären Couch fest und wartete auf die Landung.
    Sie kamen wieder nach unten und gingen in die Küche. Sie gab lauter
Ohs
und
Ahs
von sich. «Wie praktisch für eine Familie», sagte sie und meinte wohl die Esstheke mit den Barhockern.
    Auf dem Weg nach draußen kam sie noch einmal ins Wohnzimmer und strich mit der Hand über einen blauen Keramikteller, den Mutter von einem Urlaub in Mexiko mitgebracht hatte.
    Â«Vorsicht bitte», sagte ich. Wäre ich ein Vogel gewesen, hätte ich sie mit dem Schnabel in die Hand gehackt.
    Â«Nett, dich kennengelernt zu haben.» Sie wandte sich zu mir und lächelte noch einmal über das ganze Gesicht – die erfahrene, ältere Frau, die alles wieder in Ordnung bringen konnte. Sie hatte muschelfarbene Zähne mit scharfen und spröden Kanten und eine feuchte

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