Schwimmen in der Nacht
Kapitel
Reine Mechanik
Gleich nach dem Unterricht nahm ich den Zug nach Boston und folgte den Wegweisern zu einer Familienplanungsklinik in Beacon Hill. Meine Periode war ausgeblieben, was nicht geplant gewesen war und worüber ich nicht nachdenken wollte. Morgens beim Aufwachen war mir übel, und ich fühlte mich komisch. Aber ich zwang mich, dem Unterrichtseinerlei zu folgen: In Biologie der Aufbau des menschlichen Körpers, dann Englisch. In Mathe Logarithmen. Amerikanische Geschichte. Ich schluckte Aspirin und redete mir ein, an Symptomen von Unzufriedenheit zu leiden.
In den Pausen ignorierte ich die Cliquen und Grüppchen auf dem Gang, die sich seit Schulbeginn neu gebildet hatten. Nach meinem Sommer mit Gregory und der Nacht mit Anthony kamen mir die Jungen in der Schule alle jung vor, zu kindlich und bübchenhaft.
Dafür hatten Sophie und ich immer noch viele Kurse zusammen. Nachmittags ging sie zum Ballettunterricht und hatte Stepp- und Jazztanz. Sie war mit einem Schüler aus dem Abschlussjahrgang namens Benny Weiss zusammen. Benny hatte blasse Haut und seine wulstigen Lippen hatten die Farbe von Apfelwein. Er gab sich alle Mühe, alt und runzlig auszusehen; las französische Philosophen und redete über Existenzialismus. Er wollte mit ihr schlafen, sie aber wollte noch warten, obwohl sie sonst überall wie einEhepaar auftraten. Am Wochenende ging er mit ihr ins Kino und fuhr sie zum Ballett. Anfangs war ich überrascht, aber dann gewöhnte ich mich daran, sie Arm in Arm herumlaufen und in seinem Auto knutschen zu sehen.
Margaret tauchte meist gar nicht erst auf und war vom Rektor schon zweimal wegen der Schwänzerei verwarnt worden. Wir wurden verschiedenen Klassen zugeteilt. Ich gehörte zu denen, die aufs College zusteuerten, aber abgesehen davon, dass ich meine Aufgaben machte und keine einzige Chorprobe ausfallen lieÃ, fühlte ich mich nicht gerade auf der Ãberholspur.
Mr Edwards hatte mich gebeten, beim Thanksgiving-Konzert noch ein Solo zu singen, «One Hand» aus Leonard Bernsteins
West Side Story.
Das Thema war dieses Jahr Amerika. Wir studierten die amerikanische Nationalhymne ein. Das ist gar nicht so einfach zu singen. Das Lied wechselt zwischen hohen und tiefen Tonlagen. Er meinte, ich sollte unbedingt auch für das Schultheaterstück
Guys and Dolls
vorsprechen, aber ich wollte nicht schauspielern. Im Alltag schauspielerte ich schon genug. Ich spielte die Tochter, der alles egal ist â dabei war mir gar nichts egal.
Es war mir nicht egal, als Mrs Brenwald schlieÃlich starb. Ich kam an einem Oktobernachmittag vom Chor nach Hause, bog in unsere StraÃe ein, sah einen groÃen Pritschenwagen vor ihrem Haus parken, und einen Mann in braunem Overall, der in der Auffahrt stand. Dora, Robert und Elliot drängten sich wie Schaulustige auf dem Bürgersteig.
Der Mann trug ein kariertes Flanellhemd. Er hielt eine brennende Zigarette in der Hand, und sein Gesichtwar schmutzig. Mrs Brenwalds hohes braunes Unkraut war gemäht worden; die elektrische Heckenschere lag neben ihm. Ich sah, dass er dafür mehrere Stunden gebraucht haben musste. Am auffälligsten war aber der Wagen, jetzt ohne Plane. Da stand er nun, das Mahnmal eines prähistorischen Lebens, das in seiner posthumen Existenz wieder in Bewegung gesetzt und zu einem Autosammler gekarrt würde, das sagte jedenfalls der Mann.
«Ich kümmer mich nur um die Abholung», sagte er. «Mehr weià ich auch nicht. Die meisten Leuten kümmern sich besser um ihre Autos als um ihre Angehörigen, das kann ich euch sagen.» Er sprach, als wäre er solche seltsamen Spektakel und Umstände gewohnt. Das war sein Geschäft. Er deutete mit dem Kinn Richtung Haus und schüttelte dann den Kopf.
«Schon echt traurig.»
Seit Jahren kursierende Gerüchte hatten sich bestätigt. Brenwalds Haus war ein Durcheinander aus alten Zeitungen, braunen Papiertüten und einer toten Katze.
Die Augenbrauen des Mannes warfen Schatten auf seine Wangen.
Ich wandte mich an Dora. «Wann ist es passiert?»
«Heute Morgen. Sie ist nicht mehr da», sagte Dora. «Sie haben sie mitgenommen. Ein Mann von den Stadtwerken hat die Polizei gerufen. Eine Angehörige ist gekommen, als du in der Schule warst. Eine Nichte.» Sie schüttelte den Kopf.
Ein Streifenwagen und ein Krankenwagen ohne Blaulicht kamen die StraÃe lang und hielten. Wir zogen uns auf unseren Rasen
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