Schwimmen mit Elefanten - Roman
brauchte nur das Heft auf dieser Seite aufzuschlagen, und schon stieg ihm der süße Duft aus dem Bus in die Nase. In diesem Augenblick hatte er das Bedürfnis, sich vor den Figuren zu verneigen, die mit jedem Zug allein ihre Mission erfüllen wollen. Die Erinnerung daran, wie sein Meister ihm gratuliert hatte, gab ihm das verlässliche Gefühl, für immer einen Freund zu haben. Jedes Mal, wenn er sein Heft zuklappte, liebte der Junge Schach noch mehr als zuvor.
Zuerst waren die Großeltern sehr argwöhnisch, als ihr Enkel Tag für Tag zum Wohnheim der Busgesellschaft ging. Aber als sie erfuhren, dass der Junge dort Schach lernte, hatten sie keine Einwände mehr und ließen ihn gewähren. Sie waren sogar froh, dass das sonst so schweigsame Kind nicht nur redseliger wurde, sondern auch einen Freund gefunden hatte. Zuvor hatten sie sich besorgt gefragt, ob ihr Enkel wegen seiner Lippen keine Freunde hatte, mit denen er herumtoben konnte. Natürlich war der Meister viel zu dick für solche kindlichen Vergnügungen, aber auf dem Schachbrett ging es ja auch hoch her. Die Großeltern wollten ihren schachbegeisterten Enkel so gut wie möglich unterstützen, aber da sie nicht wussten, wie sie das anstellen sollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn in Ruhe zu lassen. Ein einziges Mal hatte der Junge versucht, ihnen die Regeln beizubringen, um neue Gegner zu haben. Dies sollte mithilfe eines Reiseschachspiels mit Magneten und eines illustrierten Lehrbuchs geschehen, das er sich von seinem Meister ausgeliehen hatte: »Schach für Anfänger«. Leider waren alle Versuche umsonst.
»Es gewinnt der Spieler, der als Erster den gegnerischen König ausschaltet«, erklärte er.
»Meinst du, so?«
Sein kleiner Bruder nahm die Könige vom Brett, die der Junge gerade erst aufgestellt hatte.
»Nein, so doch nicht. Man muss die anderen Figuren bewegen, um ihn einzukreisen.«
Aber wie oft er es ihm auch klarzumachen versuchte, der Kleine ließ sich von seinem Prinzip nicht abbringen: Warum all die Umstände, wenn es doch viel schneller ginge, die Figur einfach wegzunehmen?
Seine Großmutter bemühte sich immerhin, den Anweisungen ihres Enkels zu folgen.
»Dieser stämmige Kerl heißt ›Turm‹. Er darf sich nach Belieben fortbewegen, längs und quer. Diagonal ziehen darf man mit ihm nicht, aber dafür ist er sehr nützlich, ob er sich nun in einer Ecke befindet oder mitten auf dem Spielfeld. Das hier ist der Läufer. Er ist der Berater von Dame und König und meine Lieblingsfigur. Er kann sich frei bewegen, im Gegensatz zu fast allen anderen Figuren darf er diagonal ziehen. Die Figur da, die wie ein Pferd ausschaut, ist der Springer. Er kann über die anderen Figuren hinwegspringen, sogar um die Ecke. Aber nur ein Feld zur Seite gehen. Man muss also Geduld haben mit ihm. Doch wer ihn klug für seine Zwecke einzusetzen weiß, für den fliegt er durch die Lüfte wie Pegasus. Ich bin noch weit davon entfernt, mit ihm geschickt umzugehen. Und, findest du das Spiel interessant?«
»Ja, doch.«
Seine Großmutter nickte übertrieben. Aber sie schaute nicht auf das Brett, sondern auf ihr Tuch, auf dem sie herumknetete, als wollte sie aus all den Falten ein Schachmuster machen.
»Leg doch mal das Tuch beiseite und schau dir das Brett an. Siehst du, wie die Figuren nebeneinander stehen?«
»Hm, ja, das sehe ich. Mein Gott, wie viele das sind! Und du kannst dir merken, wie alle laufen? Das ist beeindruckend. Es gibt bestimmt nicht viele Menschen auf der Welt, die ein so schwieriges Spiel beherrschen. Und zu denen gehörst du. Wir können wirklich stolz auf dich sein. Lei … Lau … wie hieß die Figur doch gleich? Es wäre ja schon allerhand, wenn man sich wenigstens den Namen einer Figur merken könnte. Aber du fürchtest dich weder vor dem Turm noch vor diesem Pferdchen, sondern schließt mit allen Freundschaft, damit sie dir helfen können. Du bist ein guter Junge, das weiß ich.«
Seine Großmutter nestelte an ihrem Tuch. Verkrusteter Rotz, getrockneter Kalkstein und einige undefinierbare Krümel hingen zwischen den Falten. Sie war voller Bewunderung für ihren Enkel, für die Spielregeln interessierte sie sich nicht.
Der Einzige in der Familie, bei dem ein Hoffnungsschimmer bestand, war sein Großvater, aber der bewunderte nicht das Spiel an sich, sondern nur das Zubehör.
»Aha, das ist also ein Schachbrett. Wenn du mir das gleich gezeigt hättest, hätte ich das Muster in deinem Alkoven noch besser
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