Schwimmen mit Elefanten - Roman
hinbekommen.«
»Deine Zeichnung ist sehr gut zu gebrauchen. Sie ist groß genug, und der Kontrast zwischen den weißen und schwarzen Feldern stimmt auch. Das Brett des Meisters kann man sogar als Tisch verwenden.«
»Als Tisch?«
Das Wort ließ ihn aufhorchen.
»Ja, die Platte besteht aus einem Schachbrett.«
»Ist das Muster aufgeklebt?«
»Ich glaube nicht. Es wurden Holzplättchen für die weißen und schwarzen Felder eingelassen. Das kann man trotz der abgenutzten Oberfläche noch gut erkennen. Hast du so ein Möbelstück schon einmal gesehen?«
»Nein. Ich würde es gerne restaurieren.«
»Es ist abgegriffen und voller Schrammen, aber wenn du es in die Hände bekommst, ist es hinterher bestimmt nicht mehr wiederzuerkennen. Die vielen Kratzer sind nämlich Spuren von den Spielern, die sich darauf gemessen haben. Man darf sie nicht beseitigen, denn sie sind wertvolle Andenken an die Verstorbenen.«
»Da bin ich deiner Meinung. Alle Gebrauchsspuren erinnern an die Menschen, die das Möbelstück benutzt haben. Wenn ich etwas repariere, ist es, als würde ich mit dem ehemaligen Besitzer plaudern.«
In diesem Augenblick verstand der Junge, dass sein Großvater so wortkarg war, weil er sich im Gespräch mit den Toten befand. Das war einleuchtend.
»Wenn die Beine mal wackeln sollten, kannst du sie ja wieder herrichten«, sagte er, denn nun war er überzeugt, dass sein Großvater die Spuren des ertrunkenen Busfahrers als Andenken wahren würde.
»Du kannst dich auf mich verlassen«, erwiderte der Großvater und zündete sich eine Zigarette an. Dann band er sich die Arbeitsschürze um.
»Obwohl das Spielfeld so klein ist, scheint Schach ja eine wichtige Angelegenheit zu sein«, murmelte der Großvater anerkennend vor sich hin. Dann strich er seinem Enkel sanft über den Kopf und verschwand in seiner Werkstatt.
Mit den Toten zu kommunizieren, daran war der Junge gewöhnt. Mit ihnen konnte er sich besser verständigen als mit lebenden Personen. Er glaubte sogar, dass seine flaumbewachsenen Lippen eigens dafür geschaffen waren.
In den Lehrbüchern, die ihm sein Meister geliehen hatte, faszinierten ihn vor allem die Geschichten über berühmte Schachspieler. In endlosen Nächten ließ er ihr bewegtes Leben Revue passieren und spielte aus dem Gedächtnis auf seinem Schachbrett an der Decke die Partien nach, die in die Geschichte eingegangen waren.
Der Junge staunte über die Schönheit von Staunton, der auch Schauspieler war, ließ sich von der Harmonie beeindrucken, die das kometenhaft in der Schachwelt erschienene Wunderkind Morphy an den Tag legte, und bedauerte den am Ende seines Lebens seelisch erkrankten Steinitz, der die Strategien des Spiels unter wissenschaftlichen, nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten analysiert hatte. Letzterer hatte einmal behauptet, dass er gegen Gott antreten und ihm einen Bauern als Vorgabe zugestehen würde, worin sich für den Jungen das ganze Ausmaß seines tragischen Schicksals zeigte. Aber er war auch von der Strenge begeistert, mit der Botwinnik keinen noch so kleinen Fehler tolerierte, oder von der Ruhe, die Marcel Duchamp anstrebte, wenn er die Figuren in Bewegung setzte.
Mehr noch beflügelten die Notationen der Partien seine Fantasie. Aus ihnen konnte er auf den Charakter der Spieler schließen. Ob es ein Zauderer oder ein Zyniker war oder eine gutmütige Seele, ob gesellig oder eigenbrötlerisch. Aber nicht nur ihren Charakter, sondern auch die Art und Weise, wie sie die Figuren berührten, ihren Tonfall, ja sogar ihre Statur konnte er darin erkennen. Es machte keinen Unterschied, ob die Großmeister vor dreihundert Jahren gespielt hatten oder Zeitgenossen waren. Auf dem Schachbrett über seinem Bett waren die Toten und die Lebenden gleichrangig.
Einigen von ihnen stellte er seine Freundin Miira vor. Sie alle waren sehr angetan von ihr.
»Hey du«, riefen ihr manche mit einem frechen Augenzwinkern zu, während andere ihr manierlich die Hand gaben. Miira lächelte jedes Mal schüchtern.
Wie kam es, dass Notationen, in denen die Partien lediglich durch Symbole erfasst wurden, so aufschlussreich waren? Der Junge wunderte sich darüber und fragte seinen Meister.
»Wenn Schach bloß ein Spiel für den Kopf wäre, wären die Notationen tatsächlich nur schnöde Zeichen«, erwiderte der Meister. »Aber der Sieg hängt nicht allein nur von der Intelligenz des Spielers ab.«
»Braucht man auch Glück?«
»Nein, damit hat das nichts zu tun. Selbst in Partien, bei
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