Schwimmen mit Elefanten - Roman
Aljechin ein Genie gewesen war, dem es zustand, mit Gott im Himmel Schach zu spielen. Denn nur Gott wusste um die Schönheit der Verse, die der Mensch beim Schachspiel erschafft.
Der Gedanke daran quälte den Jungen so sehr, dass er schlaflose Nächte verbrachte. Um Aljechin zu trösten, blätterte er immer wieder dessen Notationen durch.
Und dann machte er eine Entdeckung, die ihm wieder Mut machte. Die Urform des Läufers hieß
al-fil
, was auf Arabisch »Elefant« bedeutet. Nun verstand er endlich, warum er intuitiv immer schon die Läufer geliebt hatte, denn so konnte auch Indira ihren Platz auf dem Schachbrett finden.
Der Junge hatte eine große Sorge, die er jedoch niemandem anvertrauen konnte. Der Meister wurde immer dicker. Sein Hals war vollends unter seinem Doppelkinn verschwunden, die Augen hatten sich zu dünnen Schlitzen verengt, sein Hosenbund ließ sich nicht mehr zuhaken und wurde gerade noch so von einem Gürtel zusammengehalten. Dies wirkte sich zwar nicht auf die Schachlektionen aus, aber der Anblick seines Bauchs, der jedes Mal gegen das Schachbrett stieß, wenn er am Zug war, löste bei dem Jungen die Befürchtung aus, dass die Hand seines Meisters irgendwann nicht mehr an die Figuren heranreichen würde.
Mit seiner jetzigen Leibesfülle war er im Vergleich dazu, wie er sich früher im Bus bewegt hatte, ziemlich eingeschränkt. Die prächtige Truhe mit den arabesken Verzierungen wie auch der Sockel mit der Büste der Göttin waren ihm jetzt nur noch im Weg und wurden dadurch zu bloßem Tand. Selbst die einfachsten Tätigkeiten fielen ihm sichtlich schwer. Das Teewasser aufsetzen, die Kuchenteller aus dem Küchenschrank nehmen oder das Besteck auflegen – bei jedem Handgriff stieß er sich irgendwo an. Augenscheinlich taten ihm die Gelenke weh, denn er strich sich oft mit schmerzverzerrtem Gesicht über Knie und Hüften. Schon bei der kleinsten Bewegung geriet er außer Atem. Wenn er sich von seinem Schlaflager erhob, quietschten die Sprungfedern so laut, dass der Junge erschrocken aufhorchte, weil er glaubte, der Meister würde vor Schmerzen stöhnen.
Trotz allem brachte er es nicht übers Herz, ihn zu ermahnen, wenn er mitansehen musste, wie der dicke Mann freudig über die Süßigkeiten herfiel. Immer weiter verfeinerte der Meister seine Backkünste, sein Repertoire umfasste jetzt auch schon türkische Biskuits und indonesischen Wackelpudding. Für ihn gehörten Süßigkeiten zum Schach dazu, sie waren wie Spielfiguren, mit denen man den König matt setzen konnte.
Eines Tages geschah etwas Ungewöhnliches. Aus dem Wohnheim für Junggesellen kam ein uniformierter Fahrer zum Bus herübergelaufen und klopfte an die Scheibe. Erstaunt blickte der Junge vom Schachbrett auf. Der Meister öffnete das Fenster und wechselte ein paar Worte mit dem Mann.
»Tut mir leid, mein Junge. Ich muss kurz weg, komme aber gleich wieder.«
Da er als Hausmeister tätig war, wäre es verwunderlich gewesen, wenn der Meister nichts anderes getan hätte, als unentwegt Schach zu spielen, aber der Junge erlebte nun zum ersten Mal, wie er den Bus verließ. Beim Herabsteigen der Stufen beugte er vorsichtig die Knie und stieß dann, sich an der Stange festhaltend, die Tür auf. Sein Schnaufen war deutlich zu hören.
»Warte, ich halte sie dir auf«, rief der Junge und sprang herbei.
»Tut mir leid, mein Junge«, sagte der Meister verlegen und kniff die Augen noch enger zusammen.
Er braucht sich doch nicht zu entschuldigen, dachte der Junge. Ängstlich beobachtete er, wie sein Meister sich durch die Tür quetschte. Er musste sich ziemlich verrenken, um zuerst seinen Kugelbauch, dann das rechte Bein und die rechte Schulter, gefolgt vom linken Bein und der linken Schulter, durch die Türöffnung zu bugsieren. Der Junge stemmte mit aller Kraft die Tür auf, um noch ein bisschen mehr Platz zu schaffen. Als schließlich auch der riesige Hintern des Mannes durch die Tür war, stieß der Junge einen erleichterten Seufzer aus.
Der Fahrer, der zuvor sein Anliegen vorgetragen hatte, war längst verschwunden, sodass der Meister allein über das Gelände zum Wohnheim hinüberging. Obwohl er sein Schachbrett verlassen hatte und nun nicht mehr durch die Enge des Busses behindert wurde, sah er von Weitem noch schwerfälliger aus. Sein Gang wirkte unsicher, mehrmals verlor er einen seiner Gummischlappen. Bei jedem Schritt wogte sein dicker Bauch hin und her.
Was war aus dem Mann geworden, der mit präzisen, besonnenen Bewegungen
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