Schwimmen mit Elefanten - Roman
Achselhaare des ertrunkenen Fahrers denken, den er im Schwimmbad gefunden hatte. Dieses Haargewusel hatte eine solche Lebenskraft ausgestrahlt, als lebte der Mann noch. Hastig zog der Junge die Hosenbeine hoch und inspizierte die Haut an seinen Waden, von der ein Teil seine Lippen bildete, aber sowohl die Narbe als auch die umliegenden Stellen waren immer noch mit einem zarten Flaum bedeckt. Nichts deutete auf irgendeine Veränderung hin.
Was, wenn seine Lippen eine Art Vorbote dafür waren, dass nun auch er zu wachsen begann? Vielleicht rächten sie sich dafür, dass man sie einst gewaltsam getrennt hatte? Wie sollte er sich davor schützen? Der Junge bekam es mit der Angst zu tun. Voller Sorge griff er zur Schere und schnitt sich die Barthaare ab, so wie es einst seine Schulkameraden getan hatten. Die abgeschnittenen Haare, die unangenehm an seinen Lippen klebten, schob er wütend mit der Zunge weg.
Der Versuch, seinen Haarwuchs zu bändigen, war jedoch vergebens. Er konnte so viele Haare abschneiden, wie er wollte, sie wuchsen im Nu wieder nach und wurden mit jedem Mal dichter und kräftiger, als wollten sie ihn für seine Naivität verspotten. Die frischen Stoppeln waren derart lästig, dass er sogar Probleme hatte, sich beim Schachspielen zu konzentrieren. Je mehr er die Unterseite des Bretts anstarrte, umso heftiger schmerzten seine Lippen, bis er vor lauter Unkonzentriertheit die Spielzüge durcheinanderbrachte.
Schließlich gab er seinen Widerstand auf und ließ den Bart auf seinen Lippen wachsen. Er vermied es, sich über seine Körperbehaarung Gedanken zu machen, allerdings wurde ihm bald schon klar, dass es mit seinen Lippen eine besondere Bewandtnis hatte. Sie waren der einzige Teil von ihm, der ein natürliches Wachstum durchmachte. Die aus den Lippen sprießende Wadenbehaarung war die eines Mannes, während sein Körper der eines Kindes blieb.
Nachdem es keinen Bus mehr gab, wurde das Untergeschoss des Pazifik-Hotels zum Schauplatz seiner Schachkünste. Wenn er an den Streit um die Aufnahmeprüfung dachte, hätte er es eigentlich nicht für möglich gehalten, dass er dort jemals wieder spielen würde.
Als ihn eines Tages ein älterer Herr zu Hause aufsuchte, konnte der Junge sich nicht gleich an ihn erinnern, doch es war derselbe Mann, der damals die Prüfung durchgeführt hatte. Auch diesmal war er tadellos gekleidet, mit Pomade im Haar und dem glänzenden Klubabzeichen am Revers. Der Generalsekretär musterte den Jungen, um herauszufinden, ob er tatsächlich nicht gewachsen war, vermied es aber, auf die Wadenbehaarung seiner Lippen zu starren. Der Junge war damals fünfzehn Jahre alt.
»Ich bin doch ausdrücklich disqualifiziert worden«, sagte er.
»Ja, ich weiß. Es war eine äußerst bedauerliche Entscheidung. Der Tod des Hausmeisters tut mir außerordentlich leid. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen erst heute mein Beileid aussprechen kann«, erwiderte der Mann und verneigte sich formell. »Eigentlich ist auch nicht der Pazifik-Schachklub der Anlass meines Besuchs. Ich möchte Sie vielmehr für den ›Klub am Grunde des Meeres‹ gewinnen.«
Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte.
»Die Satzung des Pazifik-Schachklubs wird Ihren besonderen Stil nie billigen. Aber meines Erachtens könnten Sie Ihre Fähigkeit im Klub am Grunde des Meeres unter Beweis stellen.«
In einem Winkel der Küche lauschte die Großmutter, besorgt an ihrem Tuch knetend, dem Gespräch.
»Dieser Klub am Grunde des Meeres, was ist das?«
Statt die nachvollziehbare Frage zu beantworten, räusperte sich der Generalsekretär ausgiebig, um Zeit zu gewinnen.
»Hat Ihr Stil etwas damit zu tun, dass Sie sich Ihrem Gegner nicht zeigen wollen? Oder möchten Sie Ihren Gegner nicht sehen? Oder beides? Das Brett nicht im Blick zu haben ist ja wie beim Blindschach ein schwerer Nachteil. Was versprechen Sie sich davon, wenn Sie sich trotzdem unter dem Tisch verstecken? Hat das etwas mit der Katze zu tun?«
Der Generalsekretär ließ den Jungen gar nicht zu Wort kommen und stellte eine Frage nach der anderen. War das eine Idee des Hausmeisters gewesen? Hatte er dafür ein Spezialtraining absolviert? Würde er tatsächlich besser unter dem Tisch spielen als vor dem Brett? Hatte er eine statistische Auswertung all seiner Partien zur Hand? Mochte er enge Räume? Konnte er sich im Dunkeln zurechtfinden?
Es waren Fragen, auf die der Junge keine Antwort wusste. Er hatte noch nie einen Gedanken daran verschwendet, warum er lieber unter
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