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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Luft baumelnde, riesige Opfergabe an den Himmel.
    Langsam schwenkte der Arm in Richtung eines Lastwagens, der hinter dem Zaun bereitstand. Dabei streifte der Körper des Toten den Sagobaum, ein paar Zweige brachen ab und seine Hose riss auf. Auch die Menge bewegte sich in Richtung Betriebshof. Keiner wollte verpassen, wie der Leichnam auf die Ladefläche gehievt wurde. Einige der Fernsehleute kletterten über die Mauer, um schneller zu sein. Andere Schaulustige zwängten sich durch das Loch im Zaun. Die Lücke, die einst genau die richtige Größe für einen Jungen hatte, war im Nu aufgerissen. In keiner Zeitung, in keinem Fernsehbeitrag gab es ein Bild von dem Jungen, wie er alleingelassen neben dem Bus stand. Als er ins Innere trat, sah er das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die Kochplatte, der Wassertank, die Kuchenteller, der Schneebesen und die Zuckerdose waren zerbrochen. Überall lagen Scherben herum. Doch der Junge wusste genau, welche Scherbe zu welchem Gegenstand gehörte und wozu dieser dem Meister gedient hatte. Alles tauchte vor seinem inneren Auge auf, er konnte sogar den süßen Duft wahrnehmen, der den Bus einst erfüllte.
    Ungeachtet der zahllosen Glassplitter, die sich in seine Schuhsohlen bohrten, ging er bis zum hinteren Ende des Busses, wo er das Schachbrett fand. Es stand da, inmitten des schrecklichen Durcheinanders, mit Metallspänen und Staub bedeckt, aber unversehrt und gelassen. Der Junge kniete sich hin und sammelte die auf dem Boden verstreuten Figuren ein. Bauer, Dame, Springer, Turm, Läufer, König … Jeden wischte er sorgfältig ab, bevor er sie in die Hosentasche steckte. Als er alle zweiunddreißig Figuren beieinander hatte, nahm er auch Pawns Decke, die zusammengerollt unter dem Schachtisch lag. Von dem Tumult jenseits des Zauns drang kein Laut an sein Ohr.
    Es dämmerte bereits, und die Menge der Schaulustigen hatte sich längst verlaufen, als der Junge immer noch im Wrack des Busses stand, mit ausgebeulten Hosentaschen und dem Schachbrett unterm Arm. Er stand reglos, wie aufgesogen von der allumfassenden Stille.
    »Pawn«, rief der Junge in die Dämmerung hinein. Aber er bekam keine Antwort.

7
    Was der Junge nach dem Tod seines Meisters am meisten fürchtete, war das Größerwerden: Der Körper wächst, die Schultern werden breiter, die Muskeln entwickeln sich, die Schuhe sind irgendwann zu klein, die Finger werden dicker, und der Adamsapfel tritt hervor.
    Die Vorahnung dieser zu erwartenden Veränderungen zog ihn in einen Sumpf der Angst. Alles, was er mit dem Größerwerden verband, verwandelte sich für ihn in ein Schreckensszenario. Wenn er auf der Straße einen zwei Meter großen Mann erblickte, wurde er leichenblass, ihm wich das Blut aus den Adern, und seine Knie begannen zu schlottern. Ihm war übel, als in den Fernsehnachrichten von einem Fest berichtet wurde, auf dem man die größte Pizza der Welt gebacken hatte. Weil der Meister zu groß geworden war, wurde sein Tod als Spektakel inszeniert. Indira hatte aus dem gleichen Grund ihr Leben auf dem Kaufhausdach verbracht. Und falls er zu groß wurde, würde er nicht mehr unter den Schachtisch passen.
    Großwerden ist eine Tragödie.
    Diese Erkenntnis hatte sich tief in sein Herz gegraben. Gleich einer ewig eiternden, schlecht verheilenden Wunde prägte sie von nun an sein Leben.
    Um die bevorstehenden Veränderungen seines Körpers zu unterdrücken, verbrachte der Junge fast den ganzen Tag unter dem Schachtisch und trauerte um seinen Meister. Er hatte den Tisch aus dem Buswrack geborgen und zu sich nach Hause gebracht. Anstatt ihn hinter sich herzuziehen und die Tischbeine auf dem Asphalt zu verkratzen, hatte er ihn in der Dunkelheit behutsam am Kanalufer entlanggetragen. Eigentlich war das Möbelstück viel zu schwer für einen Elfjährigen gewesen, seine im Tumult vor dem Bus malträtierten Hände hatten ihm wehgetan, die Knie waren aufgeschürft, und sein ganzer Kopf war mit grauem Staub bedeckt. Am Himmel war kein einziger Stern zu sehen gewesen. Er hatte die vom Kanal heraufziehende Kälte gespürt. Alle zehn Meter war er stehengeblieben und hatte sich die müden Arme gerieben. Ab und zu waren ihm Passanten entgegengekommen, die ihn verwundert angesehen hatten, aber niemand hatte ihm Hilfe angeboten. Als hätten sie sich lediglich verwundert gefragt, was der Knirps wohl mit diesem Ding wollte? Als er endlich zu Hause eingetroffen war, hatte er den Tisch neben seinen Alkoven gestellt, sich daruntergelegt und war

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