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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Greifarm.
    »Halt!« schrie der Junge und stürzte auf den Bus zu. »Da ist noch jemand drin …«
    »Hiergeblieben, Kleiner!«
    Sogleich hatte ihn jemand am Kragen gepackt und zurück hinter das Seil gehoben. Mit seinen verdreckten Hosenbeinen versuchte der Junge erneut, hinüber zum Bus zu laufen, doch die Schaulustigen standen nun wieder so dicht, dass er keinen Zentimeter vorwärtskam.
    »Bitte, hört auf damit! Mein Meister … So helft ihm doch!«
    Aber niemand achtete auf den Jungen. Nur ein Mann drehte sich um und erklärte: »Der Bus muss aufgebrochen werden, anders kriegt man den Toten nicht heraus.«
    Doch der Junge schüttelte energisch den Kopf, als wollte er die Stimme vertreiben. »Der Meister ist nicht tot, er muss doch mit mir Schach spielen.«
    »Doch. Der Unglückliche ist gestern Nacht gestorben, wahrscheinlich an Herzversagen.«
    In diesem Augenblick fraß sich der Greifarm durch die Tür. Die Zuschauer schrien auf, und das Blitzlichtgewitter der Kameras brach los. Der Junge spürte, wie die Erde unter seinen Füßen bebte.
    Als würde der Bus versuchen, Widerstand zu leisten, schaukelte er ein paar Mal hin und her, dann aber gab er auf. Die Karosserie verzog sich, die Tür brach auf und die Scheiben zersprangen. Dann sackte der Bus zusammen wie ein schwer verwundeter Elefant in der afrikanischen Savanne.
    Dennoch bohrte sich der Greifarm gnadenlos weiter ins Innere des Busses. Aus den klaffenden Teilen hingen Drähte heraus, die Vorhänge hinter den Scheiben waren zerrissen. Staubpartikel flogen durch die Luft, ab und an unterbrochen von einem sprühenden Funkenregen. Allseits hörte man entzückte Schreie, als handelte es sich um ein bizarres Naturspektakel. Kameramänner fuchtelten an Blenden herum, Reporter redeten ununterbrochen in Mikrofone.
    Nur der Junge verhielt sich still. Irgendwann drang kein Laut mehr in seine Ohren, weder das Dröhnen des Greifarms noch die Schmerzenslaute des Busses. Hilflos musste er mit ansehen, wie die Balken aus Olivenholz und der libanesische Stuck, der des Meisters ganzer Stolz war, zerstört wurden. Darunter begraben lagen die Scherben der Kuchenteller und des Teeservices. Die Büste der Göttin und die Kommode mit den arabesken Verzierungen erlitten das gleiche Schicksal. Erst als die Flanke des Busses weitgehend entfernt war, ließ der Greifarm des Baggers endlich von ihm ab. Genau in diesem Moment sprang ein kleines Wesen aus dem Bus und verschwand im nahen Gebüsch. Niemand von den Schaulustigen, die gespannt auf die Bergung des Leichnams warteten, hatte den vorbeihuschenden Schatten bemerkt. Nur dem Jungen stockte der Atem.
    »Pawn!« schrie er aus Leibeskräften. »Pawn, komm zurück!«
    Über die Bergung des Leichnams berichteten die Zeitungen und das Fernsehen dann doch eher verhalten. Verglichen mit dem Tumult, den es auf dem Betriebshof gegeben hatte, wahrten die Berichterstatter eine gewisse Diskretion. Dabei war die Angelegenheit doch sehr kurios. Dass Baufahrzeuge benötigt wurden, um mit Gewalt die Leiche eines Mannes aus einem alten Bus zu bergen, der dort eines natürlichen Todes gestorben war … Nachdem man den Bus aufgebrochen hatte, stand man vor dem Problem, dass man den zweihundertfünfzig Kilogramm schweren Toten mit menschlicher Kraft nicht bewegen konnte. Also holte man einen Kran zu Hilfe. Der Leichnam des Meisters wurde mit Gurten eng zusammengeschnürt, um ihn hochziehen zu können.
    Das Bild glich dem von Indira, als man ihr Hinterteil in eine Fahrstuhlkabine zwängen wollte, die längst zu klein geworden war. Doch der Einzige in der Zuschauermenge, der um die Ähnlichkeit der beiden Szenen wusste, war der Junge.
    Als der Tote endlich aus dem Wrack geborgen war, verspürten einige der Zuschauer den Drang zu applaudieren. Sie besannen sich jedoch und bohrten hastig ihre Hände in die Taschen. Der Kran riss den Toten mit aller Kraft in die Höhe, was dazu führte, dass der Leichnam sich zu drehen anfing, eine halbe Drehung im Uhrzeigersinn, eine halbe Drehung gegen den Uhrzeigersinn.
    Die Zuschauer hielten den Atem an. Hoffentlich riss nicht das Seil, weil es das Gewicht nicht mehr tragen konnte. Irgendwann hatten alle Anwesenden vergessen, dass es sich bei dem umherbaumelnden Paket um einen menschlichen Körper handelte. Weder sein Gesicht war zu sehen noch seine Hände, die so exquisite Kuchen gebacken hatten und mit Schachfiguren raffinierte Fallen stellen konnten. Der Tote war unkenntlich geworden. Er sah aus wie eine in der

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