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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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dem Tod des Meisters noch gut in Erinnerung war, gingen schweigend ihrer Arbeit nach, um ihn nicht zu stören. Nur manchmal schob sein Bruder sachte und unauffällig eine Tasse heißen Tee, ein Sandwich mit Tatarensauce oder einen Apfel durch die Klappe. Er konnte in dem dunklen Gehäuse die Konturen seines Bruders kaum noch von denen des Mechanismus unterscheiden.
    Die Puppe hielt zwei weiße Figuren, einen Läufer und einen Bauern, mit der linken Hand, ohne sie aufs Brett zu stellen. Die zarten Finger aus Quittenholz sahen jetzt ungelenk, verkrampft aus.
    Im Inneren des Automaten war die Hand des Jungen um den Hebel geklammert. Seine Fingerspitzen waren so taub, dass er kaum mehr etwas spürte. Aber diese Schmerzen waren nichts im Vergleich zu den Vorwürfen, die er sich machte. Er wusste nicht, was eine angemessene Strafe für die Dummheit war, die er begangen hatte. Völlig verzweifelt lauschte er den Geräuschen aus der Werkstatt, die zu ihm in den Automaten drangen, und dem Husten seiner Großmutter.
    Er hatte einen wundervollen Sieg errungen und dafür Miira geopfert. In seiner Vermessenheit hatte er geglaubt, dass sie die Rolle der unsichtbaren Wurzel übernehmen müsse. Aber war dem wirklich so? Tatsächlich hatte er selbst die wahre Bedeutung dieses Opfers nie verstanden. Indem er sie in die ehemalige Männerumkleide geschickt hatte, hatte er Miira preisgegeben. Und obendrein war er nicht in der Lage gewesen, sie zu befreien, obwohl ihre Taube sich die Seele aus dem Leib geschrien hatte.
    Er hätte es erkennen müssen, als sein Gegner ihm den Läufer auf f4 raubte. Der Mann wollte das Spiel nicht gewinnen, er hatte es auf die Frau abgesehen, die den Läufer verkörperte. Ausgerechnet jene Figur, die ihm wegen Indira besonders am Herzen lag!
    Der Generalsekretär hatte gelogen, als er behauptet hatte, es gäbe, verglichen mit der grenzenlosen Freude, die einem das Universum des Schachs bereite, nichts anderes, was von Bedeutung sei. Denn beim Lebendschach genoss man die eigentlichen Freuden nicht auf dem Spielfeld, sondern erst hinterher in der ehemaligen Männerumkleide.
    Der Junge wusste, dass seine Tat unentschuldbar war, und machte sich deswegen große Vorwürfe. Immer wieder musste er an den Tag zurückdenken, an dem er zum ersten Mal gegen seinen Meister gewonnen hatte. Damals hatte sich jeder einzelne Zug tief in seine Seele eingegraben. Doch jetzt spürte er den Bauern und den Läufer nicht mehr in der Hand der Puppe. Der Hebel im Inneren des Schachautomaten hatte keinen Zugang mehr zu seinem Herzen.
    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Miira.
    Ihre Worte machten ihn noch trauriger.
    Ohne etwas gegen die Tür zur Männerumkleide ausrichten zu können, hatte er wie betäubt das Hotel verlassen, um auf der Bank an der Promenade auf Miira zu warten. Während er dort saß und nicht wusste, was er sagen sollte, war er hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu sehen, und der Angst, ihr nicht mehr in die Augen blicken zu können. Als sie dann endlich auftauchte, sprang er auf. Aber er bekam keinen zusammenhängenden Satz heraus.
    »Schon gut, du musst dich nicht entschuldigen«, sagte Miira abermals.
    Die Taube war wieder ganz die Alte. Auf der Schulter des Mädchens trug sie eine schweigende Gelassenheit zur Schau, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, sie habe zeit ihres Lebens nie eine Stimme besessen.
    Der Tag war bereits angebrochen, und die Strahlen der Morgensonne, die das Spalier der Bäume durchbrachen, fielen auf den vom Tau benetzten Boden.
    »Niemand hat Schuld.«
    Miiras geflochtene Zöpfe fielen ihr von den Schultern auf die Brust. Ihre Wangen beschrieben eine zarte Kurve, ihre Lippen waren voll, die Augen durchscheinend. Die Haut ihrer dünnen Beine, die unter dem Kleidersaum hervorschauten, war makellos. Alles an ihr wirkte wie immer. Nur ein Abdruck der Kappe auf ihren Schläfen ließ keinen Zweifel daran, dass sie den Bauern auf h2 verkörpert hatte.
    »Ich kann nicht mehr in diesem Klub Schach spielen«, sagte der Junge schließlich.
    Seine Lippenhaare hatten sich so ineinander verhakt, dass nur ein Nuscheln zu hören war.
    »Ich möchte mit dem Kleinen Aljechin nie mehr auf den Grund des Meeres tauchen.«
    Unfähig, dem anderen ins Gesicht zu schauen, glitten ihre Blicke aneinander vorbei.
    »Aber ist es nicht gleich, an welchem Ort man spielt? Schach ist Schach, oder?«
    »Nein, die Figuren begnügen sich nicht damit, einfach nur auf dem Schachbrett hin und

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