Schwimmen mit Elefanten - Roman
stocken. Als hätte sie irgendwo heimlich geübt, waren ihre Schritte ebenso fließend wie das Wallen ihres Gewands. Niemandem im Publikum wäre aufgefallen, dass es sich um eine Zweitbesetzung handelte, selbst wenn jemand die Taube bemerkt hätte. Der Generalsekretär hatte an Miiras Tisch Platz genommen, um die Partie aufzuzeichnen.
Die Taube ließ sich von all diesen abrupten Veränderungen nicht aus der Ruhe bringen und thronte unbeweglich wie immer auf ihrem angestammten Platz. Aber der Junge nahm die Situation nicht so gelassen hin. Immerzu musste er an den Bauern auf h2 denken. Die Stirn fest an die Luke gepresst, holte er ein paar Mal tief Luft.
Sein Gegner an diesem Abend war ein vulgärer Mensch. Auch wenn er nur schemenhaft durch das Fenster des Regieraums zu erkennen und seine Stimme zum Tigergebrüll verzerrt war, genügten ein paar Züge auf dem Schachbrett, um ihn als Aufschneider zu entlarven. Obwohl er eine außergewöhnliche Konzentrationsgabe besaß, verwandte er diese Fähigkeit nicht darauf, das Bestmögliche aus den Figuren zu holen. Er verlegte sich lieber darauf, seine eigene Stärke unter Beweis zu stellen, indem er den Gegner einschüchterte. Der Junge erinnerte sich an die Lehre des Meisters, der ihm einst während der Zubereitung eines Chiffonkuchens beigebracht hatte, der beste Weg sei nicht unbedingt der leichteste, und er fragte sich beklommen, welche Art von Gedicht an diesem Abend wohl geschrieben wurde, wenn er es mit solch einem Grobian aufnehmen musste.
»Springer von g1 nach f3.«
Je unruhiger der Junge wurde, desto fröhlicher zwitscherte seine Papageienstimme aus den Lautsprechern.
»Dame nach c7«, dröhnte der Tiger unbekümmert und voller Selbstbewusstsein.
»Läufer von c1 nach f4.«
»Bauer von e6 nach e5.«
Die Gelegenheit, den Bauern auf h2 ins Spiel zu bringen, hatte sich bisher noch nicht ergeben. Während die anderen Figuren alle vorwärtsrückten, stand Miira immer noch weit hinten in der Ecke des Beckens und wartete geduldig auf ihren Einsatz. Es hatte wohl an Zeit gefehlt, ihr eine passende Kopfbedeckung zu besorgen, denn die Kugel war ihr viel zu groß. Sie ging ihr bis über die Ohren und bedeckte die Augenbrauen, was zur Folge hatte, dass die Schatten unter den Augen noch auffälliger hervortraten.
Der Junge wollte die Partie unbedingt gewinnen. Nicht, um seinen Gegner zu schlagen, sondern um das Gift, das dieser ausspie, unschädlich zu machen. Deshalb musste er siegen, um jeden Preis. Dieser Gedanke ließ ihn paradoxerweise zur Ruhe kommen, sodass er die Situation auf dem Spielfeld bald im Griff hatte.
Seinem Gegner kam es vor allem auf Abschreckung an, auch wenn er dafür einiges riskierte. Ob seine Züge ästhetisch gelungen waren oder nicht, war ihm einerlei. Sobald der Junge auch nur einen Augenblick zögerte, warf ihm der andere Sand in die Augen, stellte ihm ein Bein oder versuchte, ihm von hinten einen Stoß zu versetzen. Wenn er dann geschickt auswich, spie der andere Gift und Galle. Der Junge ließ sich jedoch nicht in die Falle locken und gab auch nicht klein bei. Ohne auf die aggressive Spielweise seines Gegners einzugehen, setzte er um der Harmonie willen sein Spiel fort. Als würde er einen Kieselstein nach dem anderen in das stille Becken werfen. Das Rauschen der schwarzen Gewänder war deutlicher zu hören als das der weißen.
Dann machte der andere einen überraschenden Zug.
»Turm von f8 schlägt Läufer auf f4.«
Obwohl er eigentlich wissen musste, dass er damit seine eigene Stellung entscheidend schwächte, schnappte er sich den weißen Läufer.
Warum tat er das? War dieser Zug ein weiterer Einschüchterungsversuch? Oder eine Verzweiflungstat angesichts der soliden weißen Festung, die sich vor ihm auftürmte? Es sei denn, der Junge hatte etwas Wesentliches übersehen … in Gedanken spielte er alle Möglichkeiten durch. Behutsam, um die anderen Figuren nicht zu stören, kletterte der weiße Läufer derweil aus dem Becken und verschwand sogleich in der Männerumkleide.
Der Junge fand den Zug einfach nur grotesk. Während der nächsten Züge drehte sich ihm vor Übelkeit fast der Magen um.
»Bauer von h2 nach h4.«
Er legte sich eine neue Strategie zurecht. Voller Zuversicht näherten sich seine behaarten Lippen dem Mikrofon, bis sie es fast berührten. Es war genau der richtige Moment, dem Gegner den Rückweg abzuschneiden und den Bauern von h2 ins Spiel zu bringen.
Miira folgte den Anweisungen des Jungen und ging zwei
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