Schwimmen mit Elefanten - Roman
her zu wandern. Sie erschaffen etwas Eigenständiges, und das ist so großartig, so kostbar, dass es den Rahmen eines Schachbretts sprengt. Deshalb ist das Spektakel mit lebendigen Figuren dort auf dem Meeresboden auch kein richtiges Schach. Man spielt zwar nach den Regeln, missbraucht aber das Spiel für andere Zwecke.«
Die Worte kamen wie von selbst aus seinem Mund. Miira stocherte mit ihrer Schuhspitze im welken Laub am Boden und brachte es zum Rascheln.
»Ich weiß. Schließlich habe ich deine Partien aufgezeichnet. Man hat mich immer dafür bewundert, dass ich die schönsten Notationen im ganzen Klub schreibe.«
»Und genau deshalb möchte ich nicht, dass du und der Kleine Aljechin weiterhin beschmutzt werden.«
»Aber so schlimm ist es nicht. Jedenfalls bist du nicht dafür verantwortlich.«
Während sie durch das trockene Laub strich, betonte Miira wieder und immer wieder, dass die ganze Sache nicht schlimm sei. Wie viel einfacher wäre es für den Jungen gewesen, wenn sie einfach dahocken würde, verängstigt, wie damals in jener Nacht, als der betrunkene Mann auf die Puppe eingeschlagen hatte. Dann hätte er ihr über den Rücken streichen, ihre Tränen trocknen und ihrem verwundeten Herzen Trost spenden können. Er hätte sie mit seinen zierlichen Armen schützend umfangen können. Doch Miira stand aufrecht und schaute zu ihm herunter, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie weinte nicht. Und sie hatte auch keine Angst.
»Ich bitte dich. Du darfst das alles nicht so schwer nehmen. Was da unten auf dem Meeresgrund passiert, kümmert keinen Menschen. Es ist, als wäre nichts geschehen. Alles ist nur eine Illusion.«
Hinter den Bäumen wurde ein Motorrad angelassen. Stimmen von Kindern waren zu hören, die gerade zur Schule gingen.
»Die Menschen leben hier oben an der Oberfläche. Wir sind anders.«
Ohne etwas zu erwidern, starrte der Junge auf Miiras Beine. Die Haut auf ihren Waden sah aus wie Wachs, als steckte die Kälte des Schwimmbeckens noch immer in ihren Gliedern.
»Gute Nacht«, sagte sie, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. Und kaum hatte er ihren Gruß erwidert, rannte sie schon zwischen den Bäumen davon. Die Taube wippte im gleichen Rhythmus wie ihre beiden Zöpfe.
»Könntest du mir einen Gefallen tun?«
Als der Junge den Hebel endlich losließ und aus der Puppe kroch, war bereits die Dunkelheit angebrochen.
In der Werkstatt war Feierabend. Sein Großvater saß am Fenster und rauchte, während sein Bruder die Sägespäne auf dem Boden zusammenfegte. Der weiße Läufer und der Bauer lagen, nachdem sie den ganzen Tag lang umklammert worden waren, erschöpft auf dem Brett.
»Ich möchte gern, dass du den Kleinen Aljechin zerlegst, damit ich ihn selbst transportieren kann.«
Der Großvater stieß langsam den Rauch der Zigarette aus und schaute seinen Enkel erstaunt an.
»Ich gehe nicht mehr in den Klub am Grunde des Meeres zurück.«
Die Stimme des Jungen klang rau und brüchig. Ihm waren die Erschöpfung und seine Verzweiflung anzusehen. Sein Bruder hörte auf zu fegen und warf ihm einen besorgten Blick zu.
»Und warum?« fragte sein Großvater.
»Mir ist klar geworden, dass der Klub nicht die richtige Umgebung für Aljechin ist.«
»Und wo willst du ihn hinbringen?«
»Das weiß ich noch nicht …«
Als wollte er gegen seinen schwindenden Willen ankämpfen, hob der Junge den Kopf und stellte die umgefallenen Figuren wieder an ihren Platz zurück.
»Auf jeden Fall muss ich ihn retten. Denn ich bin der Einzige, der das tun kann.«
»Es ist aber ausgemacht, dass bald jemand aus dem Klub kommt und ihn abholt.«
»Deshalb darf ich keine Zeit verlieren.«
»Ja, aber du scheinst etwas Entscheidendes zu vergessen.«
Der Großvater drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
»Die Puppe ist nicht dein Eigentum.«
»Aber das weiß ich doch.«
Behutsam strich der Junge über das Schachbrett. Das warme, samtig weiche Gefühl an seinen Fingerspitzen hatte sich seit der Zeit, als er jeden Tag den Bus aufsuchte, nie verändert. Er dachte an die Hände des Meisters. Wie Zeige- und Mittelfinger in familiärer Eintracht den Bauern am Kopf packten, ihr leichtes Zittern, nachdem sie die Figur gesetzt hatten und dann noch einen Moment lang über dem Brett schwebten. Oder wie er beim Nachdenken mit den Fingerkuppen seine wulstigen Ohrläppchen knetete. Der Junge sah auf seine eigenen Handflächen, als könnte er dort die Spuren entdecken, die der Meister hinterlassen hatte, als er ihm
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