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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Felder vor. Ohne dass sie an den Saum ihres Gewandes stieß, bewegte sie sich mit einer Eleganz, die sogar den großen Alexander Aljechin inspiriert hätte.
    Als es auf das Endspiel zuging, erwies sich besagter Zug des Gegners nun klar als irreparabler Fehler. Seine Brutalität war ungebremst, allerdings war bereits abzusehen, dass er die weiße Festung nicht würde einnehmen können.
    »Bauer von h4 nach h5.«
    Der Junge rückte Miira noch ein Feld vorwärts. Er würde sie opfern, um seinem Gegner den Todesstoß zu versetzen. Miira sollte die schwarze Dame herauslocken, dann wären die Läufer wirkungslos und der König isoliert. Diese Art von Sieg liebte der Junge: das Übel an der Wurzel packen, damit die Blume ungeahnte neue Blüten treiben konnte. Er war sicher, dass dieses verborgene Opfer eher Miiras Bestimmung entsprach als ein Blütenblatt, das alle Blicke auf sich zog.
    »Dame b5 schlägt Bauern auf h5«, brüllte der Tiger.
    Wie befohlen, rückte die Dame nach h5 und verstieß Miira, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass diese als Opfer auserkoren war. Der Dame ihr Feld überlassend, glitt Miira wie ein weißer Kieselstein, der über die Wasseroberfläche schlittert, über das verwaiste Spielfeld, auf dem nur noch wenige Figuren standen.
    »Dame von e6 schlägt Springer auf e8 und bietet Schach.«
    Im Blickfeld des Jungen, der nun festen Schrittes zum Sieg marschierte, tauchte kurz Miira auf, bevor sie in der Männerumkleide verschwand.
    »Läufer von g6 schlägt Dame auf e8.«
    Die Gegenwehr des Tigers war nicht mehr als hässliche Agonie.
    »Läufer von b2 schlägt Bauern auf f6. Schachmatt.«
    Es war der letzte Kieselstein, den der Junge auf das verlassene Spielfeld warf. Allein das Wogen ihres wallenden weißen Gewandes blieb noch eine Ewigkeit in seinen Gedanken.
    Niemand hatte den Jungen darüber informiert, was Miira zugestoßen war. Als er, nachdem alle Zuschauer den Saal verlassen hatten, an die Tür der Männerumkleide klopfte, hielt ihn der Generalsekretär zurück.
    »Gehen Sie ruhig schon mal nach Hause.«
    Sein Tonfall war noch freundlicher als vorhin, als er Miira dazu überredet hatte, für die erkrankte Darstellerin einzuspringen.
    »Nun machen Sie schon!«
    Die Vehemenz, mit der er den Jungen in Richtung Heizungsraum schob, duldete keine Widerrede.
    Die Hauptbeleuchtung war ausgeschaltet, sodass das Schachmuster am Boden des Schwimmbads im Dunkeln lag. Auch die Lautsprecher, aus denen vor Kurzem noch das Brüllen des Tigers und das Trillern des Papageis schallten, hüllten sich in Schweigen. Auf dem Tisch am Beckenrand standen leere Gläser, in denen Eiswürfel, die langsam vor sich hin schmolzen, leise knackten. Auf der kalten schweren Tür zum Umkleideraum bildeten Schrammen und Schmutzflecken ein bizarres Muster.
    Traurig wollte sich der Junge auf den Heimweg machen. Doch als er gerade im Begriff war, die Wendeltreppe hinaufzusteigen, hörte er ein seltsames Geräusch, nicht besonders laut, eher zurückhaltend, aber so eindringlich, dass der Junge stehen blieb und horchte. Man hätte meinen können, es handele sich um den rasselnden Atem eines Lungenkranken oder das Ächzen eines morschen Baums tief im Inneren eines Waldes, was da ungehindert vom Meeresboden an sein Ohr drang.
    »Die Taube«, fiel ihm schlagartig ein. »Die Taube schreit.«
    Obwohl er noch niemals in seinem Leben eine Taube hatte schreien hören, hatte er sofort ein Bild vor Augen: ihr schmaler Hals, der zitternde Schnabel, ihre roten Schleimhäute, die aus ihrem empfindlichen Rachen hervorblickten. Die Taube rief um Hilfe.
    Er hastete die Wendeltreppe, die er soeben erklommen hatte, wieder hinunter, lief am Becken entlang und hämmerte an die Tür der ehemaligen Männerumkleide. Keine Antwort. Da entdeckte er oben in der Tür ein kleines Fenster. Er stellte sich auf die Zehenspitzen … aber es half nichts, er war zu klein. Die Plastikstühle waren inzwischen weggeräumt worden, und im ganzen Saal gab es nichts, worauf er sich hätte stellen können. Er wollte die Holzkiste für die Desinfektionsmittel holen, aber der Abstellraum war zugeschlossen.
    Während er hin und her lief, schrie die Taube unentwegt. Das Muster wurde immer gespenstischer.
    »Miira, Miira …«
    Seine Rufe verhallten ungehört an der schweren Eisentür.

12
    Der Junge hatte sich in der Puppe eingeschlossen, die noch in der Werkstatt stand. Dort blieb er stundenlang, ohne sich zu regen. Sein Großvater und sein Bruder, denen sein Anblick nach

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