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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Sogar die Haare des Kleinen Aljechin waren noch zerzaust von der stürmischen Umarmung der Großmutter. Ein paar Strähnen hingen ihm vor den Glasaugen, die auf das Spielfeld starrten. Als er sie zurückstreichen wollte, überkam ihn das traurige Gefühl, dass er so die Spuren seiner Großmutter verwischen würde, und er hielt inne. Um ihn herum herrschte tiefe Stille, kein Laut war zu hören, weder aus der oberen Etage noch von draußen. Die zu reparierenden Möbel waren beiseitegestellt worden, damit sie nicht im Weg waren. In den Augen des Automaten spiegelte sich die Glühlampe. Es schien, als wollten seine funkelnden Augen etwas sagen. Der Junge öffnete die Klappe unter dem Schachtisch. Er kroch hinein und atmete tief durch. Aufmerksam betrachtete er die Unterseite des Bretts. Jetzt war der Moment gekommen, wo er sich seiner Trauer hingeben konnte. Er befand sich an seinem angestammten Platz, dem einzigen Ort, wo er seiner Großmutter für ihre liebevolle Fürsorge danken konnte.
    Wie lange mochte er im Inneren des Automaten zugebracht haben? Tief in der Nacht, als die Trauergäste und die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts längst fort waren, wurde vorsichtig die Tür zur Werkstatt geöffnet.
    »Ich bin hier, um Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
    Es war die alte Dame.
    »Es gibt nicht viele Menschen, die Schach so tief zu bewegen vermag. Ihre Frau Großmutter gehört zu den wenigen.«
    Mit den Fingern zeichnete sie das Muster eines Schachbretts nach.
    »Für mich war es ein wundervolles Erlebnis, in ihrem Beisein Schach gespielt zu haben.«
    Der Kleine Aljechin legte seine Hand an den Hebel. Die Tränen fielen auf seine Finger, und er presste seine Lippen fest aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen.
    »Ein schönes Schachbrett, nicht wahr? Das stelle ich immer wieder fest, wenn ich es sehe«, bemerkte die alte Dame. »Es führt nichts Böses im Schilde, sondern ist charakterfest und mitfühlend. Ein ideales Brett, um die Poesie Aljechins wiederaufleben zu lassen.«
    Beide betrachteten das Brett – der Junge von unten, die alte Dame von oben. Unzählige Partien hatten darauf ihre Spuren hinterlassen, und trotzdem war es immer dasselbe geblieben. Es stand einfach nur da, reglos in der Stille der Nacht. Das klackernde Geräusch ihres Rings verriet dem Jungen, dass die alte Dame ihre Hand auf das Brett gelegt hatte, und er legte seine Hand an dieselbe Stelle.
    »Ein Schachbrett ist unendlich. Es mag zwar nur eine flache Holzplatte sein mit einem Muster aus vertikalen und horizontalen Linien, aber es birgt das ganze Universum in sich.«
    Der Kleine Aljechin schlug die Augen nieder.
    »Deshalb sollte man sich beim Schachspielen auch auf das Wesentliche beschränken. Einen eigenen Stil entwickeln, seine persönliche Lebensanschauung zum Ausdruck bringen. Mit seinen Fähigkeiten prahlen, sich eitel hervortun – all das hat mit Schach nichts zu tun. Denn das Spiel ist größer als man selbst. Wenn man nur für sich spielt, wird man nie in der Lage sein, wahrhaftig Schach zu spielen. Man muss sich von seiner Selbstsucht befreien und auch den Wunsch hinter sich lassen, unbedingt gewinnen zu wollen, um das Universum erkunden zu dürfen. Es ist doch herrlich, wenn einem das gelingt, nicht wahr?«
    Der Kleine Aljechin spürte, wie sie ihre Hand wegzog. Eine Weile herrschte Schweigen. Nicht einmal der Atem des anderen war zu hören.
    »Ein wahres Kunstwerk«, murmelte die alte Dame. »Und nun kann man ihn zusammenklappen und wegtransportieren.«
    Sie hatte es also bemerkt.
    »Sie haben offenbar die Absicht, dem Klub am Grunde des Meeres den Rücken zu kehren?«
    Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Wie erstarrt hielt er den Hebel umklammert.
    »Wenn man es sich recht überlegt, besteht keine Notwendigkeit, ewig am Meeresgrund zu verweilen. Wenn man sich zu lange an einem Ort aufhält, tritt man auf der Stelle. Es ist nur zu verständlich, dass Sie sich nach einem neuen Ort sehnen. Der Ozean des Schachs ist nun einmal grenzenlos.«
    Sie benutzte die gleichen Worte wie der Meister.
    »Zögern Sie nicht. Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen.«
    Nun verstand der Kleine Aljechin, dass sie gekommen war, um sich von ihm zu verabschieden.
    »Die Vorstellung, Sie nicht mehr im Klub anzutreffen, stimmt mich traurig, aber ich glaube, wir werden uns irgendwann wiederbegegnen. Das verspreche ich Ihnen. In der Zwischenzeit kann ich fleißig trainieren, damit ich nächstes Mal nicht wieder verliere. Der

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