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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Geräusch mehr. Weder den rasselnden Atem der alten Dame noch das Knirschen der Zahnrädchen, ja sogar das Pochen des eigenen Herzens wurde restlos von der Stille verschluckt. In der Finsternis des tiefen Ozeans war kein Laut zu hören. Der einzige Lichtstrahl, der hierhin gelangte, führte seinen Läufer auf d6 zum gegnerischen Bauern auf h2.
    Die Hand aus Quittenholz ergriff den Läufer und stellte ihn auf h2, auf dem der Bauer stand. Urplötzlich wurde dem Jungen bewusst, dass Miira nicht mehr bei ihm war, und seine Finger begannen zu zittern. Der Hebel ruckte, und die Figuren klackten auf das Brett, während der Bauer sein Feld räumte und das Spielfeld verließ. In seinen Gedanken sah der Junge Miira, wie sie aus dem Becken nach oben kletterte und in der ehemaligen Männerumkleide verschwand. Diesen Augenblick würde er nie vergessen. »Leb wohl!« rief er ihr still hinterher.
    Kf2 – h5
    Th1 – Ld6
    Tfh3 – h4
    Tf3 – Lg3+
    Die alte Dame kämpfte verbissen. Dem Kleinen Aljechin gelang es, seinen Kummer über Miiras Abschied zu verdrängen. Kaltblütig engte er den Bewegungsradius ihrer Figuren ein. So als wollte er der Schönheit ihres Spiels Tribut zollen, ließ er beim siebenundzwanzigsten Zug seinen Turm in einem eleganten Manöver von e8 nach e1 ziehen, was die alte Dame jedoch nicht weiter schreckte.
    Sein Bruder, der damals, als der Junge ihm die Schachregeln erklärte, die Figuren einfach so vom Brett genommen hatte, sah nun erstaunt mit an, welche Mühe die beiden Kontrahenten darauf verwandten, dem gegnerischen König zu Leibe zu rücken. Sowohl der Kleine Aljechin als auch die alte Dame waren ungeheuer standhaft. Und die drei Zuschauer wurden Zeugen, wie auf einem Holzbrett kunstvolle Muster gewoben wurden, die sie nie zuvor gesehen hatten.
    Kg2 – h3+
    Txh3 – Lxh3+
    Kxh3 – Dh4+
    Der Kleine Aljechin bot mehrmals hintereinander Schach.
    Schließlich, bei seinem einunddreißigsten Zug, griff er nach der Dame und setzte sie behutsam auf h2, als würde er der scheidenden Miira einen Blumenstrauß hinterherwerfen.
    Schachmatt.
    »Ich habe verloren«, sagte die alte Dame und setzte ihre Brille ab.
    In diesem Moment verstand seine Großmutter, warum die Lippen des Jungen ursprünglich versiegelt gewesen waren und mit was für einer Begabung er stattdessen gesegnet war.
    »Der Junge kommt ohne Worte aus. Er lässt die Figuren erzählen. Und das auf so wundervolle Weise …«
    Sie hob zitternd ihren rechten Arm, als wollte sie auf jemand Unsichtbaren deuten. Ihr Tuch lag zusammengeknüllt auf ihrem Schoß. Der Kleine Aljechin hörte ihre Stimme ganz nah an seinem Ohr. So nah, dass er den Atem seiner Großmutter spüren konnte.
    »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich bin überwältigt.«
    Mühsam wandte sich die Großmutter an die alte Dame. Es gelang ihr kaum, die Augen offen zu halten, und ihr Atem ging schwer.
    »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass ich miterleben durfte, wie meisterhaft mein Enkelsohn heute gespielt hat.«
    »Ich wüsste nicht, wofür Sie mir danken sollten. Ich habe doch einfach nur Schach gespielt. Mit dem Kleinen Aljechin …«
    Die alte Dame wies auf die Puppe.
    Mithilfe der anderen erhob sich die Großmutter vom Sofa und ging ganz langsam hinüber zu dem Schachautomaten. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, strich ihm übers Haar, schmiegte ihre Wange an seine Stirn und berührte mit ihren Fingern seine verschlossenen Lippen.
    »Du hast eine Begabung, über die kein anderer verfügt. Ich bin so unendlich stolz auf dich.«
    Sie merkte nicht, dass ihr Tuch zu Boden gefallen war.

13
    Das Gerücht, dass der Kleine Aljechin verschwunden sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Mitgliedern des Klubs am Grunde des Meeres, aber der Aufruhr, den es verursachte, hielt sich in Grenzen. Das Erstaunen und die Empörung darüber, die vom Meeresboden an die Oberfläche drangen, wurden von der Strömung erfasst und von den Wellen verschluckt, bis der größte Teil sich in Schaum auflöste.
    Wenn jemand einen Blick in die ehemalige Damendusche warf, so sah er lediglich ein Mädchen mit einer Taube auf der Schulter, das gerade dabei war, Kleider auszubessern. Manch einer fragte sich verwundert, ob der Kleine Aljechin überhaupt existiert oder ob man sich die Existenz eines Schachautomaten bloß eingebildet hatte. Allerdings konnte man sich in den Notationen, sofern man eine besaß, davon überzeugen, weil dort schwarz auf weiß geschrieben stand,

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