Schwimmen mit Elefanten - Roman
Generalsekretär wird morgen Nachmittag vorbeikommen, um die Puppe abzuholen. Es bleibt Ihnen also nicht mehr viel Zeit.«
Die alte Dame tat einen tiefen Atemzug und erhob sich:
»Ich danke Ihnen für alles.«
Wie gern hätte der Junge die Hand gedrückt, die ihre wundervollen Partien überhaupt erst möglich gemacht hatte. Er war es, der sich bei der alten Dame zu bedanken hatte.
In diesem Augenblick legte sie etwas in die Hand des Kleinen Aljechin. Es fühlte sich anders an als eine Schachfigur, das konnte er durch den Hebel spüren.
»Geben Sie sich ganz dem Meer des Schachs hin!«
Mit diesem Abschiedsgruß verließ sie die Werkstatt. Der Junge lauschte ihren Schritten nach, bis sie verklungen waren.
Was sich in der linken Hand des Kleinen Aljechins befand, war der Zettel mit der Annonce:
Seniorenresidenz »Etüde« sucht begabten Schachspieler
.
Die Puppe hielt die Botschaft so feierlich in der Hand, als hätte sie gerade den gegnerischen König schachmatt gesetzt. Der Junge nahm den Zettel entgegen. Beim Glattstreichen des Papiers konnte er noch die Wärme der alten Dame spüren.
»Begabter Schachspieler … begabter Schachspieler …«
Wieder und wieder las der Junge den Zettel, auf dem nichts weiter stand als der eine Satz. Einzig das Wort »Schach« hatte für ihn eine Bedeutung.
In jener Nacht gab es noch eine Person, die sich von dem Kleinen Aljechin verabschieden wollte. Ohne ein Wort zu verlieren, wie ein Hauch, den man fast nicht spürt, stand sie plötzlich da, direkt neben der Puppe. Der Kleine Aljechin spürte, wie sie zögerte, wie sie die Worte, die sie aussprechen wollte, immer wieder herunterschluckte.
Die linke Hand des Automaten ruhte auf dem Kissen, er hatte die Augen weit geöffnet und hielt seine Katze im Arm. Das leere Spielfeld lag völlig im Dunkeln. Man konnte nicht einmal die weißen von den schwarzen Feldern unterscheiden.
Die stumme Besucherin hielt lange die Hände vor der Brust gefaltet, als spürte sie das Gewicht ihrer unausgesprochenen Worte. Dann nahm sie die Puppe in die Arme. Die Dunkelheit erbebte, und die Stille im Raum wurde unendlich. Ihre Hände ertasteten seine Augenlider, strichen über seine Wangen und ergriffen die Hand aus Quittenholz. Dann bekam der Kleine Aljechin einen Kuss.
»Miira!« rief der Junge voller Sehnsucht.
Doch sein Ruf wurde von der Dunkelheit verschluckt und verhallte als bloßes Echo in seinem Ohr.
»Miira!« rief er wieder und wieder.
Aber seine Stimme erreichte sie nicht.
Wenn er an die Abschiedsszenen der vergangenen Tage dachte, überkam ihn eine große Traurigkeit. Um nicht vor den anderen Fahrgästen loszuschluchzen, drückte er immer wieder den Beutel mit den Schachfiguren an seine Lippen. So hatte er das Gefühl, wieder im Bus des Meisters zu sein, wo er sich unter dem Schachtisch verstecken konnte, um mit Indira und Miira über den Ozean des Schachs zu treiben. Und über allem schwebte der süße Duft von frisch gebackenem Kuchen.
In diesem Augenblick ertönte eine Durchsage. Der Junge holte die Fahrkarte aus der Tasche, um sich zu vergewissern, dass er an der nächsten Station aussteigen musste. Je mehr der Zug sein Tempo drosselte, desto mehr verschwand der ausrangierte Bus in der Ferne. Nun verstand der Junge, wie weit er schon gereist war.
14
Die Altersresidenz »Etüde«, wo die Legende vom Kleinen Aljechin, dem Poeten unter dem Schachbrett, fortgeschrieben wurde, lag in den Bergen, nordwestlich eines städtischen Ballungsgebietes. Es handelte sich um eine Wohnanlage, in der ausschließlich ältere Personen lebten, die dort ihren Altersruhesitz bezogen hatten. Das karreeförmige Gebäude mit einem Innenhof war an einen Hang gebaut. Sein weiß getünchte Dach war vergilbt, und an den Wänden blätterte an einigen Stellen die Farbe ab, und dennoch stach es deutlich aus der dicht bewaldeten Umgebung heraus. Die dahinter gelegenen Bergkuppen waren zumeist nebelverhangen. Das zweistöckige Gebäude war geometrisch angelegt, selbst die Anordnung der Fenster in ihren polierten Holzrahmen folgte einem strengen Muster. Im Erdgeschoss gab es eine umlaufende Veranda, die nach allen Seiten eine herrliche Aussicht bot.
Das Innere war ebenfalls sehr übersichtlich gegliedert: Im Südtrakt lagen die Gemeinschaftsräume, im östlichen Trakt die Zimmer der Damen. Die Herren waren im Nordtrakt untergebracht, und im Westtrakt lagen die Verwaltungs- und Personalräume. Der Gemeinschaftstrakt war mit einem Speiseraum, einem Salon,
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