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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Wissen konnte er es nicht lassen, das Blatt Papier jedes Mal umzudrehen oder gegen das Licht zu halten. Sobald er sich überzeugt hatte, dass auf dem Blatt nichts weiter geschrieben stand, starrte er nur noch auf die Zeichenfolge:
    Sxd4
    …
    Lg5
    …
    f4
    …
    Zuerst glaubte er, sie würde ihm eine Notation schicken, die aus dem Klub am Grunde des Meeres stammte, aber dann wurde ihm ziemlich bald klar, dass dem nicht so war. Es handelte sich um Schachzüge, die von ihr stammten.
    Anfangs waren sie noch sehr schüchtern und konnten ihre Unsicherheit nicht verbergen, aber dann trat ihre Intention mit jedem weiteren Zug offener zutage. Ihre Züge waren schlicht und beständig, so als würde sie immer den richtigen Ton treffen. Sie erklangen in Intervallen und gehorchten noch keiner Technik, um sich zu einer kunstvollen Melodie zu verbinden, aber jeder einzelne Ton, den sie auf den weißen Papierbögen verewigte, versetzte das Trommelfell des Jungen in Schwingung.
    Es vergingen meistens einige Tage, bevor er antwortete. Für ihre Partie gab es weder ein Zeitlimit noch eine Schachuhr. Derart lange über einen Zug nachdenken zu können war eine ganz neue Erfahrung für ihn. Angefangen mit dem ersten Zug e4 legte er die Briefe in der chronologischen Reihenfolge auf den Tisch. Wenn er sie las, erinnerte er sich daran, wie Miiras Stift über den Notationsbogen geglitten war, wie sie die Hand aus Quittenholz flüchtig berührt oder ihm auf dem Boden der Damendusche die schmerzenden Gelenke massiert hatte. Wieso waren all diese Erinnerungen in unerreichbare Ferne gerückt? Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz schwindlig. Aber wenn er die Augen schloss und auf dem Schachbrett seine und Miiras Figuren aufstellte, gewann er seine Ruhe zurück. Die in seinen Ohren klingenden Geräusche ihrer Figuren waren allein für ihn bestimmt. Miiras weiße Schar war am Anfang noch scheu und ängstlich, aber sie marschierte bereits unaufhaltsam auf das Territorium des Kleinen Aljechin zu.
    Verzeih mir, Miira. Ich bin einfach so gegangen, ohne dir Lebewohl zu sagen. Aber nun bin ich froh, dass du mir nicht böse bist. Ich erkenne das an deinem siebten und elften Brief. Es sind keine Züge, die man spielt, wenn man zornig ist. Und du willst mich nicht herausfordern, sondern mit mir zusammen eine Sinfonie schreiben. Ich bin so froh, dass du an der Seite des Kleinen Aljechin das Schachspielen erlernt hast.
    All das und noch viel mehr hätte er Miira gern geschrieben, aber sein Brief enthielt auch diesmal nur eine einzige Zeile.
    Dxg5.
    Der Junge steckte den sorgfältig zusammengefalteten Bogen in einen Umschlag, schrieb die Adresse des Pazifik-Hotels darauf und versah ihn mit einer Briefmarke. Den Brief ließ er eine Nacht auf seinem Tisch liegen, als wollte er den wohldurchdachten Zug noch etwas reifen lassen. Dann, am nächsten Morgen, gab er ihn dem Gondelführer mit.
    Auch seit seiner Ankunft in der Residenz »Etüde« war der Junge nicht mehr gewachsen. Auf Kinn und Wangen war zwar starker Bartwuchs zu erkennen, sonst aber blieb sein Körper unverändert, was ihm erlaubte, immer noch mühelos in die Puppe kriechen zu können. Muskeln hatte er kaum entwickelt, außer denen, die er zur Betätigung des Hebels und für die Verrenkung seiner Gliedmaßen benötigte. Er war noch kleiner, als es alte Menschen oft sind. Unter den Bewohnern hielten ihn einige tatsächlich für ein Kind.
    »Noch so klein und hilft schon mit. Hier, zur Belohnung bekommst du ein Bonbon.«
    Langsam füllten sich seine Taschen mit immer mehr Süßigkeiten.
    Obwohl er allabendlich immer wieder die gleiche Prozedur vollzog, hatte er in dem Moment, wenn er die Klappe des Schachtischs öffnete, jedes Mal Angst, gewachsen zu sein. Vielleicht hatte sich seine Wirbelsäule über Nacht gestreckt, oder seine Schultern waren breiter geworden. Erst als er sich in seiner üblichen Position befand und nirgendwo anstieß oder den Mechanismus behinderte, konnte er unbekümmert den Blick zur Unterseite des Schachbretts heben.
    Der Junge achtete darauf, so unscheinbar wie möglich zu leben. Inmitten der alten Herrschaften bewegte er sich lautlos, auf den Fluren schlich er immer an der Wand entlang und redete nie, wenn es nicht sein musste. Die ihm aufgetragenen Arbeiten erledigte er hingebungsvoll, aber sobald er damit fertig war, verschwand er, um keine Spuren zu hinterlassen. Seine Mahlzeiten nahm er rasch in der hintersten Ecke des Speisesaals ein, und wenn sich die Gesellschaft im Salon

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