Schwimmen mit Elefanten - Roman
streifen. Und es gab dafür keinen besseren Begleiter als den Jungen.
»Sie werden den Alten mit dem Trolley vermissen, nicht wahr?«
Sie liefen durch das dicht bewachsene Gelände und folgten einem ausgetretenen Wanderpfad. Nachdem sie über einen morschen, halb zusammengefallenen Zaun geklettert waren, umrundeten sie ein mit Sumpfgras bewachsenes Moor und kamen zur Tränke einer alten Schäferei, von der nur noch die Grundmauern standen. Jedes Mal, wenn sie ins Gras traten, schwirrten kleine Insekten um ihre Füße herum.
»Er war mit Sicherheit derjenige, der am meisten geredet hat.«
»Ohne seine ausufernden Geschichten wird es im Salon ziemlich still sein.«
»Ja, aber …« Der Junge hielt einen Moment inne. »In Wahrheit war er ein sehr stiller Mensch.«
»Ach wirklich? Ich dachte, er wäre das genaue Gegenteil.«
Die Oberschwester bohrte ihre Hände in die Kitteltaschen.
»Sobald er seine Habseligkeiten in der Einkaufstasche verstaut hatte, versank er in tiefes Schweigen. Mit diesem Schweigen konnte es nicht mal die Puppe aufnehmen.«
Dicht über ihnen tauchte der blasse Mond am Himmel auf, in der Ferne funkelte der Abendstern. Die Seilbahn war irgendwann hinter ihnen verschwunden, während die Residenz auf a8 noch stellenweise durch die Bäume hindurch zu sehen war. Der Junge überlegte, ob sie sich gerade auf a6 befanden.
»Sie meinen also, im Salon verhielt er sich anders als vor dem Schachbrett?«
»Ja, alles hing davon ab, ob der Deckel seiner Einkaufstasche offen stand oder zugeklappt war.«
»Ah, ich verstehe.«
Die Oberschwester nickte. Aus der Nähe betrachtet, war ihre Haube viel hübscher. Sie steht ihr gut, sagte sich der Junge. Doch ungeachtet seiner bewundernden Blicke, stapfte sie mit energischen Schritten durch das hohe Gras.
»Er wollte jedoch nie jemanden erschrecken oder ignorieren. Es war eine Stille, in der er völlig aufgehen konnte.«
»Hat das damit zu tun, ob man gut oder schlecht Schach spielt?«
»Ja, natürlich. Schach ist ein Spiel, bei dem man setzen muss, wenn man am Zug ist. Selbst wenn man dann nur ein Feld mit dem Bauern vorrückt, verändert sich die Konstellation auf dem gesamten Feld. Und wenn ein Spieler trotz der permanenten Veränderungen auf dem Brett eine innere Ruhe empfinden kann, ist das ein Zeichen von Stärke.«
»Demnach war er also ein starker Spieler. Ich dachte immer, er sei bloß ein redseliger alter Mann.«
»Ganz und gar nicht. Er war ein wundervoller Schachspieler, der davon überzeugt war, dass sich im Schach ein grenzenloses Universum verbirgt, das der Wahrheit viel näher kommt als jeder Gedanke, den man mit dem eigenen endlichen Verstand ausbrütet. Sein Selbst abstreifen und sich hingebungsvoll in den Ozean des Schachs stürzen, darum ging es ihm.«
Die Sonne, die schon fast hinter dem Gebirgskamm verschwunden war, sandte ihre letzten Strahlen. Die beiden Schatten waren immer länger geworden und hatten sich dann vereint.
»Aber welche ist nun die wahre Person?« rätselte die Oberschwester, den Blick starr geradeaus gerichtet.
»Die vor dem Schachbrett sitzt«, erwiderte der Junge entschieden. »Der stille Alte mit dem Trolley ist sein wahres Ich. Am Schachbrett kann sich niemand selbst betrügen.«
»Ja, das sehe ich ein.« Die Oberschwester nickte zustimmend. »Ich hatte den Alten falsch eingeschätzt.«
Sie drehte sich lächelnd zu ihm um, und er nickte ihr stumm zu.
Plötzlich tauchte vor ihnen ein Gebäude auf, das exakt die gleiche Form hatte wie a8. Es war die Molkerei. Das Feld, auf dem der schwarze Turm Stellung bezog.
»Wir sind ziemlich weit vom Weg abgekommen.«
»Ist Ihnen kalt?«
»Nein, gar nicht. In diesem Kittel ist mir nie warm oder kalt. Mein Körper hat sich daran gewöhnt.«
Am Gemäuer der Molkerei rankte Efeu. Etliche Fensterscheiben waren zerbrochen, und im Innenhof lag dürres Laub. Von der regen Betriebsamkeit, die früher hier geherrscht hatte, war nichts mehr zu spüren.
»Wir müssen langsam zurückgehen«, sagte die Oberschwester, den Blick zum Abendstern erhoben. Ihre Schatten waren immer noch eins.
Als der Junge mit gesenktem Kopf hinter der Oberschwester nach Hause ging, dachte er daran, wie schön es wäre, mit ihr eine Partie Schach zu spielen.
In den folgenden Wochen erhielt der Junge weitere Briefe von Miira. Manche kamen gleich nachdem er seine Antwort geschickt hatte, andere mit großer Verzögerung. Alle enthielten immer nur die Notation eines weiteren Schachzugs. Wider besseres
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