Schwimmen mit Elefanten - Roman
Morgendämmerung, also zu einer Zeit, wo niemand auf die Idee käme, ein Foto zu schießen.
Die Beerdigung des alten Herrn mit dem Trolley erfolgte wie üblich kurz nach anderen Todesfällen. Nur dass man in seinem Fall die Einkaufstasche mit dem kompletten Inhalt in den Sarg legte, was ein wenig sonderbar anmutete, aber es gab keinen Grund, sie ihm vorzuenthalten. Selbst im Grab war er eins mit dem Trolley. Seine Finger hielten fest den Griff umklammert, als wollte er sagen: »So, jetzt sind Sie am Zug.«
Das, was den Jungen bei den Bestattungszeremonien am meisten beunruhigte, war der Moment, wenn der Sarg mit der Gondel talabwärts zum Krematorium transportiert wurde. Der Sarg wurde auf eine der beiden Viererbänke gestellt. Um das Gewicht auszubalancieren, musste sich die Oberschwester auf die gegenüberliegende Bank setzen. Das hätten natürlich auch andere übernehmen können – selbst wenn sie dazu mehrere sein mussten –, aber die Oberschwester fühlte sich verantwortlich, dem Verstorbenen das letzte Geleit zu geben.
Zu dieser Gelegenheit trug sie wie immer ihre weiße Schwesterntracht und ihre Haube. Merkwürdigerweise störte sich niemand an dem auffälligen Kontrast zu den übrigen Trauergästen, die in Schwarz gekleidet waren. Dem tristen Begräbnis gab das untadlige Weiß eine sachliche Note.
»So, nun kann es losgehen.«
Die Oberschwester grüßte kurz die Anwesenden, bevor sie die Kabine betrat. Sie war mit allen Abläufen bestens vertraut, was dem diensthabenden Gondelführer überflüssige Anweisungen ersparte. Die Trauergäste winkten mit Tränen in den Augen dem Sarg nach, während der Zwillingsbruder des Gondelführers die Tür schloss und am Schalthebel zog.
Immer wenn er das Knirschen des Hebels hörte, überkam den Jungen die Befürchtung, die Gondel könne zusammen mit dem Sarg abstürzen. Mit der Oberschwester an Bord war das Höchstgewicht der Kabinenlast ja längst überschritten. Und das war auch mit seine Schuld, schließlich brachte er ihr das allabendliche Nachtmahl aufs Zimmer. Dieser Gedanke wurde dem Jungen mit jedem Mal unerträglicher, sodass er der Oberschwester eines Tages vorschlug, an ihrer Stelle in der Gondel mitzufahren.
»Was, Sie?« rief sie, woraufhin sich der Gondelführer erstaunt umdrehte.
»Es freut mich sehr, dass Sie sich nützlich machen wollen, aber …« Sie kniete sich vor ihn hin und sprach in einem Tonfall, als würde sie einem kleinen Kind zureden: »Sie haben eine Aufgabe, die nur Sie erfüllen können. Dies hier gehört zu meinen Aufgaben als Oberschwester, es ist nicht nötig, dass Sie mir diese Arbeit abnehmen.«
»Außerdem dürftest du kaum das nötige Gegengewicht haben«, sagte der Zwilling frech, woraufhin ihn die Oberschwester böse anfunkelte.
»Wenn ich richtig verstehe, wollen Sie dem Sarg nur das letzte Geleit geben. Dann dürfen Sie mich gerne nach unten begleiten«, sagte sie an den Jungen gewandt.
Das jedoch war ganz und gar unmöglich, weil die Gondel dann noch schwerer zu tragen gehabt hätte. Der Junge schüttelte schweigend den Kopf.
Lag es daran, dass Tote die Gravitation außer Kraft setzen, oder einfach nur an der Leibesfülle der Oberschwester? Jedenfalls schwankte die Gondel sehr viel mehr als üblich. Von einer Baumkrone flatterten Vögel auf. Der würfelförmige Kasten bahnte sich einen Weg durch das wild wuchernde Dickicht und klammerte sich dabei verbissen an die Seile. Um den Toten zu seiner letzten Ruhestätte zu bringen, gab die Oberschwester ihr Bestes und erfüllte die Aufgabe als Gegengewicht mit Bravour. Durch das makellose Weiß ihres Kittels erinnerte sie an eine Dame, die auf einem Spielfeld, wo ihre Gefährten einer nach dem anderen gefallen waren, den feindlichen Linien tapfer die Stirn bot.
Möge sie heil wieder zurückkommen. Mit diesem Wunsch meinte der Junge nicht etwa die Seele des Verstorbenen, sondern die Oberschwester.
»Oh, Sie kommen mich abholen?«
»Ja.«
Um Gewissheit zu haben, dass sie unversehrt war, hatte der Junge auf die Ankunft der Gondel gewartet und war der Oberschwester entgegengelaufen. In der Dämmerung zeichnete sich ihre Uniform deutlich vor den dunklen Bäumen ab. Trotz des langen Arbeitstages war ihre Tracht noch immer blütenweiß.
»Das ist nett von Ihnen, vielen Dank.«
»Das mache ich gern.«
An Tagen, an denen die Oberschwester einem verstorbenen Bewohner das letzte Geleit gegeben hatte, verspürte sie immer das Bedürfnis, in der Abenddämmerung durch den Wald zu
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