Schwimmen mit Elefanten - Roman
Figuren vom Brett … die Partie nahm einen absolut unvorhersehbaren Verlauf. Es war das erste Mal, dass der Junge die Übersicht verlor, was oben auf dem Brett vor sich ging. Im dunklen Innenraum der Puppe entstanden noch nie da gewesene Muster, es erklangen bizarre Tonleitern, wie von exotischen Musikinstrumenten gespielt. Der Kleine Aljechin suchte verzweifelt nach einer Strategie, um ihr die Stirn bieten zu können, aber immer wenn er glaubte zu wissen, welchen Zug die alte Dame als Nächstes tun würde, erwies sich diese Annahme als falsch. Bald schon schwirrten all seine Sinne durcheinander.
Je chaotischer es allerdings auf dem Spielfeld zuging, umso ruhiger wurde die alte Dame. Das anfängliche Zögern, mit dem sie ihren ersten Bauern gesetzt hatte, war verschwunden. Stattdessen traten ihre Figuren nun mit Pauken und Trompeten auf. Obwohl sie wild auf dem Spielfeld herumzogen, schienen sie eine bestimmte Strategie zu verfolgen. Die alte Dame ließ sich bei jedem Zug sehr viel Zeit und überlegte sorgfältig, welcher von allen möglichen Zügen, die sich ihr darboten, der beste war.
Der Kleine Aljechin hatte es inzwischen aufgegeben, aus ihrem Spiel schlau werden zu wollen. Er setzte seine Figuren, ohne genau zu wissen, wohin das alles führen würde, und versuchte unbeholfen, die weißen und schwarzen Figuren in Einklang zu bringen. Zwar fand er es bedauerlich, dass sie nie erfahren würden, welche Art von Sinfonie dort gerade auf dem Brett entstand, aber wenigstens schrieben sie beide gemeinsam daran … Bis sie nach einer langen Pause mit ruhiger Stimme sagte: »Ich habe verloren.«
Gegen Ende war alles ganz schnell gegangen. Noch schliefen die anderen Bewohner der Residenz, aber man hörte bereits die Vögel im Innenhof zwitschern. Ein milchiger Sonnenstrahl drang durch den Spalt unter der Klappe ins Innere des Automaten. Die alte Dame hatte nicht vergessen, den König umzulegen, als Zeichen ihrer Niederlage.
Erst als der gegnerische König fiel, kam ihm in den Sinn, dass er an den Ausgang der Partie nie einen Gedanken verschwendet hatte. Er war immer nur um die Musik bemüht, die im Herzen der alten Dame erklang.
Als sie sich von ihrem Platz erhob, berührte sie ein zweites Mal das Glöckchen. Das war ihr einziger Abschiedsgruß. Der Junge kroch aus der Puppe, warf einen Blick auf das Spielbrett und war überrascht, dass die verbliebenen Figuren ein absolut harmonisches Bild abgaben. Keine Spur von dem vermuteten Chaos. Auf dem Brett herrschte eine Stille wie in einem Kloster. Und in der Mitte lag der weiße König, als wäre er in ein Gebet vertieft.
16
Da es sich bei der Residenz »Etüde« um einen Altersruhesitz handelte, waren Begräbnisse hier keine Seltenheit. Starb ein Bewohner, folgten ihm nicht selten andere, in kurzem Abstand, so als hätten sie einen Halt verloren. So waren bei Todesfällen mit anschließender Trauerfeier regelrechte Zyklen zu beobachten. Im Erdgeschoss von a8 gab es im Gemeinschaftsbereich dafür einen speziellen Raum. Er befand sich direkt unter dem Schachzimmer.
Da viele der Verstorbenen keine Angehörigen hatten, bestand die Trauergemeinde fast nur aus Mitbewohnern. Sie kamen in Rollstühlen, am Stock oder wurden von einer Pflegeperson gestützt. Jeder opferte dem Toten eine weiße Blume und erinnerte an die Partien, die man gemeinsam gespielt hatte. Als Porträt des Toten wählte man in der Regel ein Foto, das ihn beim Schachspiel zeigte. Entweder in einer nachdenklichen Pose, das Kinn auf die Faust gestützt, oder wie er gerade im Begriff war, einen gegnerischen Bauern zu nehmen. Oder aber wie er einem Gegner die Hand schüttelte. Was immer den Verstorbenen am besten charakterisierte. Auch die Beigaben für den Sarg hatten mit ihrer großen Leidenschaft zu tun: ein Reise-Schachspiel für die Hosentasche, ein Lehrbuch über Standarderöffnungen, eine Medaille von einem Turnier, eine ausgediente Schachuhr und dergleichen.
Als der Junge vor dem Sarg stand, sagte er sich, dass er auch gerne ein solches Souvenir mit auf die letzte Reise nehmen würde, wenn seine Zeit gekommen war. Nur hätte man kein Porträt von ihm aufstellen können, da kein einziges Foto von ihm existierte, auf dem man ihn Schach spielen sah. Kaum stand er vor dem Schachbrett, verkroch er sich ja gleich darunter. Außer bei dem Schachwettbewerb damals im Kaufhaus hatte er nie an einem offiziellen Wettkampf teilgenommen. Und hier in der Residenz verließ er die Puppe für gewöhnlich in der
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