Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
dünnem Durchschlagpapier hervor, durch das die blaue Karbonschrift schimmerte, und reichte sie ihr. Sie schnaubte und schnallte sie auf dem Buch fest.
»Bücher solltest du aber anders behandeln«, sagte ich.
»Ach was, das habe ich doch nur antiquarisch beim Bücher-Viktor gekauft.«
Sie log bestimmt. Das Buch war ja erst vor zwei Jahren erschienen.
»Tschüss, ich muss zum Zahnarzt!«
Sie strampelte unter den Bäumen davon. Der Fahrtwind spannte ihren Rock wie einen Sonnenschirm auf.
Sie war furchtbar süß. Zerbrechlich in ihrem schwankenden Leben, das von wahren oder unwahren kleinen Ausrufen zusammengehalten wurde.
Das nächste Mal kam ich mit dem Bibliothekswagen auf Station 57, und da trug sie einen chinesischen Pyjama aus schwarzem Satin. Sie war geschminkt und hatte das Haar mit einem fast weißblonden Nylonzopf rings um den Scheitel hochgesteckt. »Von Tag zu Tag besser und besser«, sagte eine Pflegerin, die aus Tierp war und Lillemors Putzfrau kannte. Das durfte sie aber nicht erzählen.
»Ich kann nicht lesen«, sagte Lillemor. »Es ergibt keine Wörter. Nur Buchstaben.«
»Pfeif drauf«, meinte ich.
»Ich kann auch keine Musik hören. Es sind nur Geräusche, mehr nicht.«
»Sie bringen ohnehin fast nur Mist«, sagte ich.
Da fing sie von Schubert an, dass sie seine Musik gebracht hatten, als Lunik II auf dem Mond gelandet war.
Ich stieg jetzt jeden Nachmittag oben beim Monument herum und besuchte Lillemor bis zu viermal in der Woche, dann fünfmal und schließlich jeden Abend. Ich durfte nach Feierabend zu einer besonderen Besuchszeit kommen, weil Lillemor lieber mit mir Fünf-in-eine-Reihe spielen wollte als mit einer zerstreuten Pflegerin Mensch-ärgere-dich-nicht. Statt Kreuzen und Kreisen nahmen wir Fruchtgummimäuse. Rote und grüne. Die gelben aßen wir auf.
Wir unterhielten uns. Lillemor konnte hervorragend erzählen, und warum sollte sie sich vor mir schämen? Die anderen, die himmlisch weißen Gestalten, wollten ihr elektrischen Strom durchs Gehirn jagen. Ich aber gehörte zur Erde, wo man sich versteckt und List anwendet.
Ich sagte: »Die einzige Möglichkeit ist, sie zu täuschen, anders kommst du nie hier raus.«
»Wie denn?«
»Du musst so tun, als ob du gesund wärst.«
»Das ist nicht so einfach.«
»Wenn man sich wahnsinnig stellen kann, dann kann man sich auch gesund stellen.«
So leicht, wie ich gedacht hatte, waren sie aber nicht zu täuschen. Lillemor kam um die Elektroschocks herum, weil es dort einen freundlichen und recht vernünftigen Stationsarzt gab. Seiner Ansicht nach war es auch nicht gut, dass sie so viele Medikamente bekam. Er meinte, sie solle ihre Probleme angehen. Sie erzählte, was er gesagt hatte, und sie erzählte es mitten in ihrer Trübsal auf lustige Art. Sie besaß Talent dazu.
Maklow genehmigte drei Therapiegespräche pro Woche, und damit ihr überhaupt Worte aus dem geschwollenen Mund und über die starren Lippen kamen, hatte man die Medikamentendosis gesenkt. Lillemor hockte jedoch bald wieder hinter dem Sessel. Dass sie mit mir sprach und anfing, sich anzukleiden, zu schminken und die Haare mit dem blonden falschen Zopf hochzustecken, betrachteten sie als ein Wunder, und sie wollten natürlich wissen, was meine Methode war.
Ich hatte aber keine. Sie durfte einfach drauflosreden, und in diesem Herbst erzählte sie mir so ziemlich ihr gesamtes Leben, während wir auf großen Therapieblättern, die wir mit Buntstift kästelten, Fünf-in-eine-Reihe spielten. Manchmal aß sie alle Mäuse auf, während sie erzählte.
Der Arzt gab nicht so leicht auf, und als er sie wieder in der Therapie hatte, stoppte er ihre Aussagen. Er wollte sie zwingen zu verstehen, was sich, natürlich unbewusst, dahinter verbarg und ihr Erzählen wie auch ihr Leben steuerte.
»Und was ist es?«, fragte ich.
»Ich glaube, er meint meine Mutter.«
Sie hatten Astrid Troj verboten anzurufen. Lillemors Zustand verschlechtere sich dadurch, dass ihre Mutter abwechselnd sagte, Lillemor solle sich zusammenreißen und sie habe sie aufgegeben.
Der Stationsarzt hatte in den Gesprächen ein Buch erwähnt, das er gerade las. Es war Neurose und menschliches Wachstum von der deutsch-amerikanischen Psychoanalytikerin Karen Horney. Lillemor sagte, wenn diese Frau nicht schon tot wäre, würde sie zu ihr fahren, um sie kennenzulernen. Zum ersten Mal äußerte sie damit einen Wunsch, und deshalb nahm ich es auf mich, das Buch in der Lundequistska-Buchhandlung zu besorgen. Sie wollte
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