Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
wäre und sich hinter einen Sessel hockte und sich weigerte zu sprechen?
Sie hatte dagestanden und Nyréns wippenden Hintern sowie die gespreizten und angewinkelten Beine der Juratusse gesehen. Wahrscheinlich mit beiden Augen.
Sie hat ungleiche Augen. Betrachtet man ein Foto von ihr genau, egal, welches aus all diesen Zeiten, doch eines direkt von vorn, so sieht man: Ein Lid, nämlich das rechte, verdeckt den Augapfel mehr als das linke. Man könnte auf die Idee kommen, dass sie vom Leben nur gut die Hälfte wahrnimmt. Auf einen Blick.
Das Leben mit Rolf würde ebenfalls funktionieren, daran hatte sie fest geglaubt. Aber dort auf dem Sofa in der Walpurgisnacht wurde es zu viel, auch für das andere Auge, und sie war schnurstracks hergegangen und hatte über das Ritalin hinaus auch alle ihre Mackipillen geschluckt.
Während sich Lillemor Troj so erfolgreich durch die Welt schwindelte, hatte natürlich auch ich ein Leben. Aber dies ist nun mal ihre Biografie, und auf den Bildern ist schließlich sie zu sehen gewesen. Die Zeit verging, wie es in alten Romanen immer heißt. Sie verging auch für mich, obwohl ich es kaum merkte, als ich in kribbelnder Unzufriedenheit in der Bibliothek herumackerte. Für Lillemor war ich wohl wie einer dieser Romanzyklen, die sich jetzt im Keller der Bibliothek befinden. Oder aber ich saß auf den Steinen.
Sie erinnerte sich bestimmt an die Situation aus den Buddenbrooks: Auf den Steinen sitzen hieß abseits sein, in diesem Fall abseits des gesellschaftlichen Lebens der besseren Kreise, woran Tony Buddenbrook in dem Badeort teilhaben durfte, nicht aber ihr Schwarm. Ich saß auf den Steinen zwischen muffig riechenden Büchern und nörgelnden Menschen.
Im Keller zu landen hat seine Entsprechung in der Literatur. Heutzutage führen Die Thibaults ein Kellerleben, das kein Leben ist, zusammen mit Rot und Schwarz und Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre . Aber schon damals wollten die Leute Roger Martin du Gards Familienepos in sieben Bänden nicht lesen, wo es doch Vic Suneson und Maria Lang gab. Jedenfalls nicht im Sommer. Das machte mich aus zwei eigentlich unvereinbaren Gründen sauer. Zum einen, weil die meisten freiwillig Mist statt guter Bücher zu wählen schienen, zum anderen, weil meine Vorgesetzten über die Leute, die sich Unterhaltungsliteratur ausliehen, die Nase rümpften. Trotzdem war das erst der Anfang.
Im Herbst würden die alten Meister ja wieder nachgefragt werden, als Studienlektüre. Dass ihre Aussichten nicht rosig waren, war mir aber schon damals klar.
Obwohl, auf der anderen Seite, was ist eigentlich verkehrt an Unterhaltung?
Erst fünf Uhr.
Noch Stunden, bis der Schlaf kommt – so sie überhaupt auf Schlaf zu hoffen wagt. Das Bewusstsein kann auf Selbstquälerei eingestellt sein. Dann treiben aus der Mülldeponie des Gehirns gerissene Fetzen umher, und es sind keine Vorboten jenes tiefen Schlummers, der Hypnos’ Geschenk ist. Sie wirbeln herum, als gäbe es weder Wahl noch Wille. Heutzutage hört sie oft ein Rauschen, wenn sie wach liegt. Wahrscheinlich ist es ein leichter Tinnitus, der sich nur dann bemerkbar macht, wenn es um sie herum still ist. Das Geräusch ängstigt Lillemor jedoch. Es klingt für sie wie Stimmengewirr, bisweilen wie Lärm aus der Chaosnacht.
In Rotbol hat sie sich zum Einschlafen immer den kleinen Finger in das Ohr gesteckt, das nicht auf dem Kissen lag. Der Geräusche wegen. Aber das waren wenigstens reale Geräusche: ein fast nicht wahrnehmbares Knispern, manchmal auch ein leises Rascheln, das leicht ans Bewusstsein stupste und sie wieder hochholte, wenn sie in den Brunnen des Schlafs sank. Waren das Ratten?
Sie war damals, im Sommer 1960, der Stille wegen in der Kate, und im Großen und Ganzen war es tagsüber auch still. Die Nächte aber waren voller leiser Geräusche. Es gibt im Gehirn eine Stelle namens Amygdala. Eigentlich sind es zwei Stellen, und sie sehen aus wie Mandeln. Das weiß sie. Aber was hilft es, das zu wissen? Die Mandeln der Amygdala sind für die Wachsamkeit zuständig. Sie lassen die Menschen wie einen Hasen aus dem Gras hochfahren. Sie sind schlicht das Schreckzentrum und jenseits aller Vernunft. Lillemor wünscht, man könnte sie herausoperieren. Sie waren in der Steinzeit nützlich, aber doch nicht heute.
Sie nimmt eine Packung Nudeln aus dem Schrank. Es gibt nur etwas Einfaches, denn sie erträgt es nicht, zu Sabis ins Einkaufszentrum Fältöversten zu gehen und Gefahr zu laufen, dass sie wieder jemand
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